Die Wahrheit des Blutes
werden.
»Alle Räume werden überwacht – mit Ausnahme deines Zimmers und der Bäder.«
»Worauf willst du hinaus?«, schrie sie plötzlich auf. »Verdächtigst du mich etwa, unseren Hund getötet zu haben? Und dann auch noch im Kinderzimmer?«
Er beobachtete sie. Ihre Schönheit bildete eine Art Trennwand zwischen ihr und ihm.
»Wir haben Bilder des Eindringlings. Es handelt sich um eine Frau. Sie trug einen Kimono und eine No-Maske.«
Naoko zuckte zusammen. Die Überraschung war nicht gespielt, dessen war Passan sich sicher. Nach fünfzehn Jahren Verhörpraxis und vor allem zehn Jahren Ehe hatte man einen Blick dafür.
»Ich habe nie einen Kimono besessen«, flüsterte sie. »Das weißt du sehr gut.«
»Du hättest dir einen kaufen können.«
»Jeder andere aber auch.«
»Wie schon gesagt: Niemand konnte unbemerkt das Haus betreten.«
Sie umschlang ihre Schultern mit den Armen, schluchzte und zitterte krampfhaft. Passan hätte nicht sagen können, ob ihr kalt war oder ob sie vor Fieber glühte. Jaffré und Lestrade wandten sich ab.
Auch Passan fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Mit einem Mal schämte er sich, die Frau zu demütigen, die jahrelang sein Leben geteilt hatte. Eigentlich spielte er ihr gegenüber nur seine Stellung aus. Denn im Grunde wusste er gar nichts. Es gab keinen Hinweis. Und in tiefster Seele war ihm klar, dass Naoko keine Schuld traf. Plötzlich fragte er sich, ob er sich nicht gerade für etwas ganz anderes an ihr rächte. Für etwas, das er tief in seinem Innern begraben hatte. Etwas, das nichts mit Diegos Tod zu tun hatte und das ihm vielleicht nicht einmal bewusst war.
Dennoch griff er noch einmal an.
»Wo ist der Kaiken?«
Naoko zuckte zusammen. Die Überraschung ließ ihre Tränen versiegen.
»Der Kaiken? Ich weiß es nicht. Ich glaube, im Flur.«
»Im Flur?«
»Ich habe ihn aus der Schublade genommen, als ich Schritte im Haus hörte. Dann traf ich auf Fifi und seinen Kollegen und habe ihn fallen lassen.«
Immer noch mit den Händen in den Hosentaschen wandte sich Passan an Jaffré.
»Geh ihn suchen. Er muss analysiert werden.«
Naoko stürzte sich auf Passan und schlug ihm ins Gesicht.
»ARSCHLOCH. DAS WERDE ICH DIR NIE UND NIMMER VERZEIHEN!«
Der Schmerz war so stark, dass Passan fast das Bewusstsein verlor. Er lehnte sich an die Wand und schützte sein Gesicht mit beiden Händen. Die Polizisten packten Naoko und zwangen sie, sich wieder hinzusetzen. Sie schrie, schlug um sich und enthüllte ihre wahre Natur: eine Katze, die auch zweitausend Jahre japanischer Benimmtradition nicht hatten zähmen können.
Passan hatte den Eindruck, dass sein Gesicht wieder in Flammen stand.
»Ruft Rudel zurück«, presste er mühsam hervor. »Sie hat einen Nervenzusammenbruch. Er soll ihr etwas geben.«
Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ er den Raum. Er flüchtete vor den unflätigen Ausdrücken, die Naoko ihm nachschleuderte. Mit unsicheren Schritten stieg er die Treppe hinunter in sein ehemaliges Refugium, weil er sich erinnerte, im Bad noch Medikamente zu haben. Tastend suchte er nach dem Karton mit der Aufschrift »Hausapotheke«, nahm eine Tube Biafine heraus, setzte sich auf den Boden und verteilte die Emulsion vorsichtig auf seinem Gesicht.
Trotz des Schmerzes geriet er ins Nachdenken. Naoko war verrückt. Hysterisch. Aber hatte er sich nicht eben selbst wie ein Tier benommen? Im Dunkeln wartete er, bis das Medikament wirkte. Über seinem Kopf waren dumpfe Schritte und Geräusche eines Kampfes zu hören. Naoko, die Verrückte, wurde weggebracht.
Als es wieder ruhig geworden war, stand er auf und suchte nach seiner schwarzen Strickmütze, die er nicht mehr absetzen wollte, bis seine unfreiwillige Punkerfrisur nachgewachsen war. Anschließend ging er mühsam nach oben, verließ das Haus und stellte sich unter die offene Galerie. Der Regen hatte aufgehört, was er schade fand. Am liebsten hätte er sich jetzt mit Haut und Haaren durchnässen und erfrischen lassen.
»Hallo.«
Sandrine trug den schlafenden Hiroki. Hinter ihr führte Fifi den kaum viel wacheren Shinji an der Hand. Immer noch flitzten die Blaulichtstrahlen über den Rasen. Ein milchiges Blau, das wie ein lebendiges Herz zuckte und lange Schattenfinger auf das Gras warf. Passan drückte jedem seiner Söhne einen Kuss auf den Kopf.
»Ich kümmere mich schon um sie«, flüsterte Sandrine. »Mach dir keine Sorgen. Morgen gehe ich mit ihnen reiten.«
Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Danke.
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