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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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bestanden aus Ziegeln und erinnerten an die Wohnhäuser in den Randbezirken des Pariser Stadtzentrums. Wie diese Wohnblocks gehörte übrigens auch das Gymnasium der Stadt Paris. Genau genommen hatte Sandrine ihr Leben lang immer irgendwie am Rand gelebt – ganz wörtlich genommen.
    In einer der Ecken des Schulhofs gab es ein rundes, verglastes Treppenhaus, das die sieben Etagen des Gebäudes miteinander verband. Sandrine erkannte in diesem durchsichtigen Turm eine Metapher für ihr Leben. Immer war sie hinauf- und hinabgestiegen und hatte dabei nach draußen geschaut, ohne jemals einen Punkt außerhalb zu erreichen. Innerhalb dieser roten Mauern hatte sie gelebt, geträumt und geatmet. Ein Ziegelstein wie viele andere auch, gefangen und anonym.
    Das Geschrei der Schüler kam näher. Sie sammelten sich im Schulhof. Wie hatte sie diese Nichtsnutze nur all die Jahre hindurch ertragen? Eine einigermaßen fügsame, aber unsympathische Meute. Eine Truppe ohne Plan und ohne Herz, die faul und egoistisch aufwuchs und nur an ihren Komfort und ihre Bequemlichkeit dachte. Die Kinder der anderen. Was hätte sie wohl anders gemacht, wenn sie selbst Kinder gehabt hätte?
    Sie wandte sich zur Tür.
    Nur noch eine Stunde, dann hatte sie frei.
    Nur noch eine Stunde, dann begann das wahre, wenn auch kurze Leben.

64
    »Das Ding ist absolut koscher«, erklärte Fifi. »Die Spurensicherung hat weder Blut noch irgendwelche anderen Flüssigkeiten gefunden. Es ist nie benutzt worden.«
    Passan betrachtete den Kaiken in seiner versiegelten Plastikhülle. Er hatte ihn vor vielen Jahren bei einem Antiquitätenhändler im Tokioter Viertel Asakusa gefunden und erinnerte sich noch lebhaft der vielen Formulare, die er hatte ausfüllen müssen, um den kleinen Dolch aus dem 19. Jahrhundert durch den Zoll zu bekommen. Außerdem musste er daran denken, wie ihm der Verkäufer geraten hatte, die Klinge mit einem speziellen Stein zu polieren und sie mit Nelkenöl zu schärfen. Naoko hatte die Waffe niemals angerührt.
    Fifi sprach weiter, doch Passan hörte nicht zu.
    Hatte er seine Frau je wirklich gekannt? Eine ausgesprochen mitteilsame Japanerin ist immer noch einsilbiger als die diskreteste Pariserin. Sie zieht niemanden ins Vertrauen und gibt nie persönliche Dinge preis. Absolutes Stillschweigen. Nun gehörte Naoko noch nicht einmal zu dieser Kategorie. Sie vergrub sich wirklich in der tiefsten Tiefe ihrer Geheimnisse.
    Einen Überblick über ihre Vergangenheit hatte er nur bekommen können, indem er einzelne Informationen zusammensetzte, die sie manchmal im Abstand von über einem Jahr von sich gab. Innerhalb von zehn Jahren vervollständigte sich das Puzzle einigermaßen.
    Aber Naoko hütete nicht nur ihre Geheimnisse, sie war auch voller Widersprüche – wie ein Kompass mit instabilem Magnetfeld.
    So warf sie den Franzosen vor, ständig nach staatlicher Unterstützung zu schreien, doch sie selbst hätte nie und nimmer auch nur auf einen einzigen Euro verzichtet, der ihr laut Gesetz zustand. Sie war ausgesprochen prüde, lief aber ohne Scheu nackt herum und träumte davon, einmal als Tabledancer aufzutreten. Ihre Bescheidenheit und Höflichkeit waren zwar grenzenlos, doch im Grunde verachtete sie ihre Mitmenschen. Sie machte sich über Passan und seine Begeisterung für das alte Japan lustig, doch sie ertrug es nicht, wenn jemand anders als sie selbst die Traditionen kritisierte. Ihre Sauberkeit war schon Manie, aber gleichzeitig hatte Passan nie einen unordentlicheren Menschen erlebt. Zwar fand sie die Pariser grob und vulgär (im Japanischen existieren nur sehr wenige Flüche), sie selbst jedoch kannte jede Beleidigung, die das französische Wörterbuch zu bieten hat, und benutzte sie bei der kleinsten Gelegenheit.
    Alles, was Passan über sie wusste, verdankte er seinem Instinkt. Er spürte, ob Naoko gerührt, glücklich oder ärgerlich war. Wie eine Antenne empfing er ihre Emotionen, ohne deren genauen Grund zu kennen. Fifi hatte recht, wenn er sich an Julien Clercs Chanson »Ma préference« erinnert fühlte: Passan war wirklich der Einzige, der Naoko kannte, sofern man eine wilde, geheimnisvolle Kreatur überhaupt kennen kann.
    In der Nacht war er ins Krankenhaus zurückgekehrt und hatte sich mit ausreichend schmerzstillendem Gel, Desinfektionsmitteln und starken Schmerzmitteln versorgt, ehe er sein Büro aufsuchte. Die Ermittlungen gingen weiter, und er war der einzige Chef an Bord. Rasch hatte er geduscht – an Rasieren war nicht

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