Die Wahrheit des Blutes
sich schon sterben, aber ihr Tod wäre der Preis für das Leben der Kinder. Der Gedanke verlieh ihr einen ungeheuren Mut.
Mit gezücktem Kaiken schlich sie vorwärts. Die Schritte auf der anderen Seite der Wand waren immer noch zu hören. Mit angehaltenem Atem öffnete sie die Tür, sprang hinaus und stach mit der scharfen Klinge blindlings in die Dunkelheit. Jemand brachte sie zu Fall.
Zwei Männer hielten sie mit vorgehaltener Waffe in Schach. Naoko brauchte ein paar Sekunden, ehe sie sie erkannte: Fifi und ein anderer Polizist, ein Schwarzer mit Dreadlocks, den sie schon öfter vor dem Tor gesehen hatte.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte Fifi sich leise.
Naoko ließ den Dolch fallen, konnte sich aber nicht aufrichten. Ihre Beine schienen sie nicht mehr tragen zu wollen.
»Was ist denn hier los?«
»Wir haben ein technisches Problem. Eine der Kameras funktioniert nicht.«
»Eine Kamera?«
Allmählich kam Naokos Gehirn wieder in Gang. Klar, das Haus wurde noch immer videoüberwacht. Passan glaubte also nicht, dass Guillard der nächtliche Besucher gewesen war.
Aber ihr hatte natürlich wieder niemand Bescheid gesagt.
»Welche Kamera?«, wiederholte sie.
»Die im Kinderzimmer.«
Naoko sprang sofort auf und rannte los. Ohne das geringste Zögern riss sie die Tür des Kinderzimmers auf.
Ihr Herz setzte aus. Sie bekam keine Luft mehr. Ihr Gehirn streikte.
Als sie sah, was geschehen war, versteinerte etwas in ihr.
60
In dem Polizeiwagen, der mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Pont de Suresnes fuhr, riss sich Passan wütend die Bandagen vom Gesicht. Es kam ihm vor, als schlüpfe er endlich wieder in seine wahre Haut – die Haut eines Polizisten.
Die Nachrichten der vergangenen Nacht hatte ihn nicht verwundert.
Guillard war nicht der Vampir. Er war es nie gewesen. Der Eindringling setzte seinen Feldzug fort, und Passan musste wieder bei null anfangen. Eigentlich hätte er niedergeschlagen sein müssen. Verzweifelt. Zumindest schockiert. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Neuigkeiten der letzten Nacht elektrisierten ihn geradezu. Er spürte weder seine Verbrennungen noch die Auswirkungen des Morphins. Das in seinem Körper zirkulierende Adrenalin hielt alle seine Sinne in Alarmbereitschaft. In gewisser Weise war es nur der Kampf, der ihn am Leben erhielt.
»Schalte die Sirene aus.«
Das Einsatzfahrzeug erreichte Passans Wohnviertel. Es war fast Mitternacht. Die Straßen von Suresnes lagen wie ausgestorben da. Ein leichter Nieselregen stob über den Asphalt. Eine Art Straßenreinigung. Aber gegen den Schmutz, der über den Höhenlagen des Mont-Valérien niederging, konnte auch der Himmel nichts ausrichten.
In der Rue Cluseret hielt der Fahrer. Die Transporter waren bereits da. Außerdem ein Krankenwagen und die Autos der Spurensicherung. Blaulicht, Polizisten in Regenmänteln, fluoreszierendes Absperrband. Passans Familie lebte wie in einem Hochsicherheitstrakt. Oder vielleicht doch eher in einer Gefahrenzone, wo die Polizei immer zu spät eintraf?
Jemand klopfte gegen die Scheibe. Fifi steckte den Kopf ins Auto. Sein Gesicht war weißer als die Scheinwerfer. Passan stieg aus, musste sich aber sofort anlehnen, weil ihm schwindelig wurde. Die Schmerzmittel …
»Geht es dir nicht gut?«
»Ich will die Kinder sehen.«
»Warte.«
»Ich will sie sehen!«, brüllte Passan.
Er stürzte zum Tor, doch Fifi versperrte ihm den Weg.
»Nun warte doch erst mal. Sie sind okay. Mach dir keinen Kopf.«
»Und Naoko?«
»Allen geht es gut. Aber ich muss dir etwas zeigen.«
Passan warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Komm mit zum Lieferwagen.«
Fügsam folgte Passan seinem Partner. Der Bürgersteig schien unter seinen Schritten zu schwanken. Ein paar Meter entfernt erblickte er das Überwachungsfahrzeug, das äußerlich wie der Lieferwagen einer Baufirma aussah. Die Scheiben des alten Kastens waren grau eingetönt, sodass man hinausspähen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Das Ding stank auf einen Kilometer Entfernung nach Polizei.
Fifi klopfte an die Hecktür, die sofort geöffnet wurde. Es war Jaffré, der sie hereinbat. Ein penetranter Geruch nach Schweiß, Urin und Hamburgern raubte Passan fast den Atem.
»Ich kann dir erklären, was los ist«, begann Fifi.
Passan hörte ihm nicht zu. Er starrte wie gebannt auf die Monitore. Die Kameras zeichneten immer noch auf. Naoko saß in Wohnzimmer und hielt die völlig verängstigten Kinder in den Armen. Polizisten durchsuchten das Zimmer. Männer in
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