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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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weißen Overalls machten sich im Hintergrund zu schaffen. Auch auf den anderen Bildschirmen – denen von Küche, Esszimmer, Flur und Untergeschoss – wuselten Techniker von der Spurensicherung herum. Alle wirkten höchst angespannt. Nur ein einziger Monitor zeigte kein Bild.
    »Um Viertel nach zehn sind wir eine rauchen gegangen«, erklärte Fifi.
    »Ist niemand im Auto geblieben?«
    Fifi trat von einem Fuß auf den anderen.
    »Mein Gott, seit drei Stunden war überhaupt nichts passiert.«
    »Weiter.«
    »Als wir zurückkamen, haben wir sofort festgestellt, dass etwas nicht stimmte. Eine der Kameras funktionierte nicht mehr.«
    Passan fixierte den schwarzen Bildschirm.
    »Es war die im Kinderzimmer. Wir sind natürlich sofort ins Haus gestürmt.«
    »Habt ihr Naoko Bescheid gesagt? Sie vorher angerufen?«
    »Dazu war keine Zeit. Wir gingen rein und haben uns auf die Etagen verteilt.«
    »Und?«
    »Ich und Jaffré haben uns das Kinderzimmer vorgenommen. Die Jungs schliefen, aber der Hund war tot. Sein Kadaver lag zwischen den beiden Betten.«
    Passan wandte den Blick noch immer nicht von dem erloschenen Monitor ab.
    »Und dann?«, fragte er.
    »Naoko hat die Kinder geweckt.«
    »Was habt ihr ihnen gesagt?«
    »Gar nichts. Naoko hat kein Licht gemacht. Wir haben sie ins Wohnzimmer getragen, ohne dass sie Diego zu Gesicht bekamen.«
    »Wie konnte das passieren?«
    Fifi tippte auf einer Computertastatur herum. Der Bildschirm flammte auf, zeigte aber nur silbrige Streifen.
    »Wir haben uns geirrt«, fuhr er fort. »Die Kamera war nicht ausgeschaltet worden. Jemand hat etwas darübergedeckt. Wenn wir die Sequenz rückwärts laufen lassen, bekommen wir diese Bilder hier.«
    Jetzt war das Kinderzimmer zu sehen. Die Sterne von Hirokis Nachtlicht drehten sich an den Wänden. Das Objektiv war so eingestellt, wie es für Sicherheitskameras üblich ist – schräg nach unten auf die beiden Betten, den Eingang zum Bad und die Zimmertür gerichtet. Fifi betätigte den Schnellvorlauf.
    In der nächsten Einstellung schliefen die beiden Kinder immer noch friedlich. Außer den drehenden Sternen sah man keine Bewegung.
    Plötzlich erschien auf der Schwelle zum Bad eine Gestalt, die etwas hinter sich her zerrte. Es war eine Frau. Nur ihr gekrümmter Rücken war erkennbar. Sie trug ein dunkles Gewand, das ihr bis zu den Füßen reichte. Es war ein blutgetränkter Kimono. Die Gestalt wandte sich nicht um. Sie trippelte rückwärts mit den kleinen Schritten einer alten Frau.
    Passan musste unwillkürlich an Gespensterfilme denken.
    Die Gestalt im Kinderzimmer bewegte sich unendlich langsam auf die Mitte des Raums zu. Die Last, die sie hinter sich herschleppte, hinterließ einen dunklen Streifen auf dem Boden. Die Szene wirkte unglaublich gruselig. Kurz darauf erkannte man, was die Frau durch das Zimmer schleifte: den aufgeschlitzten Hund, dessen Eingeweide als ekelhaftes S auf dem Fußboden liegen blieben.
    »Sie hat ihn im Bad getötet«, flüsterte Fifi mit erstickter Stimme. »Wir wissen zwar nicht genau, um welche Uhrzeit, aber mit Sicherheit nach halb neun, als die Kinder schon im Bett waren.«
    »Sieht man sie auf den anderen Monitoren?«
    »Nein.«
    »Wie kam sie in das Bad der Kinder?«
    »Keine Ahnung. Unbegreiflich.«
    »Und Naoko?«
    »Was soll mit Naoko sein?«
    »War sie die ganze Zeit in ihrem Zimmer?«
    »Eher nicht. Aber in ihrem Zimmer ist keine Kamera mehr.«
    Die Gestalt auf dem Bildschirm richtete sich auf und drehte sich zum Objektiv um. Die Muster auf der Seide und die Blutflecke flossen ineinander, als ob die verstümmelten Organe des Hundes auf der Oberfläche des Stoffs zu atmen begonnen hätten. Der traditionelle Gürtel, der Obi, war dunkelrot wie eine klaffende Wunde.
    Absurderweise fiel Passan in diesem Augenblick nur ein, dass ein solcher Kimono mindestens 10000 Euro kostete. Immer schon hatte er davon geträumt, Naoko ein solches Kleidungsstück zu schenken.
    Die Gestalt trug eine No-Maske. Zwei mit dem Messer geschnitzte Schlitzaugen in gelblichem Holz. Ein roter, präzise umrandeter Mund. Ein Lächeln, das wie eine Wunde aussieht und kleine grausame Zähne entblößt.
    Passan hatte Bücher über das japanische No-Theater gelesen. Zu dieser Kunstform gehören 138 unterschiedliche Masken, von denen jede ein eigenes Gefühl ausdrücken soll. Was mochte diese hier wohl bedeuten?
    Die Gestalt betrachtete einige Sekunden lang das Objektiv und neigte den Kopf zur Seite. Blut lief an ihren Schultern hinunter.

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