Die Wahrheit des Blutes
Danke für alles.«
Plötzlich kamen ihm die grausigen Bilder auf dem Monitor wieder in den Sinn. Ein Detail fiel ihm ein. Die Gestalt hatte ihren Kimono auf besondere Weise geschlossen: Sie hatte den rechten Schoß über den linken gelegt. In Japan jedoch ist es üblich, die Schöße andersherum übereinanderzulegen, weil es auf diese Weise ein Zeichen für das Leben ist. Die Hundemörderin aber hatte den Kragen so getragen, wie es sich nur für Leichen geziemt.
Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder sie hatte keine Ahnung von japanischen Bräuchen. Oder sie sah sich als Todesengel.
63
»Wie geht es dir?«
»Ganz gut. Ich habe gestern eine Spritze bekommen und acht Stunden fest geschlafen.«
»In der Villa?«
»Ja, in meinem Zimmer. Um das Haus waren Polizisten postiert.«
»Wo bist du jetzt?«
»Auf dem Weg zu dir. Ich habe deine Nachricht bekommen.«
Sandrine unterdrückte einen erleichterten Seufzer. Sie stand in einem Nebenhof des Gymnasiums. Es war zehn nach zehn – Pausenzeit. Am frühen Morgen hatte sie Naoko eine SMS geschickt und ihr vorgeschlagen, zu ihr zu ziehen, bis in Suresnes definitiv keine Gefahr mehr drohte. Über das Wochenende würde es sicher gehen, und ab Montag konnten sie vielleicht eine dauerhaftere Lösung ins Auge fassen.
»Wo sind die Kinder?«
»Ich habe sie heute Morgen zum Reitstall gebracht.«
»Super! Wie stecken sie die Sache weg?«
»Absolut problemlos.«
»Haben sie noch mal von Diego gesprochen?«
»Nein.«
Zwei Polizisten hatten Sandrine und die Kinder zum Reitstall gebracht und machten sich einen Spaß daraus, auf dem Boulevard Périphérique das Martinshorn einzuschalten. Die Jungen waren hingerissen. Ein Polizist war bei Shinji und Hiroki geblieben, der andere hatte Sandrine zur Schule begleitet. Immer in Höchstgeschwindigkeit.
Als das Lehrpersonal sie staunend mit Blaulicht und Martinshorn vorfahren sah, gluckste sie vor Vergnügen. Auf neugierige Fragen hin hatte sie eine geheimnisvolle Miene aufgesetzt und gesagt: »Tut mir leid, aber ich darf nicht darüber sprechen …« Von wegen unbeschriebenes Blatt! Sie nahm an einem echten Krimi teil.
»Du bist ein Engel«, erklärte Naoko. »Ich wüsste nicht, was wir ohne dich tun sollten.«
Sandrine spürte die Verlegenheit in ihrer Stimme. Naoko hasste es, Gefühle zu zeigen. Aber auch sie selbst war aufgeregt. Noch konnte sie das Glück kaum fassen, das da auf sie zukam. Ihre Freundin würde bei ihr wohnen. Wenigstens für ein paar Tage, aber vielleicht ja auch länger.
»Die Schlüssel liegen unter der Fußmatte«, sagte sie hastig, um bloß keine Ergriffenheit aufkommen zu lassen.
»Es ist wirklich nur vorläufig«, entschuldigte sich Naoko. »Ich suche mir eine Wohnung. Ich …«
»Immer mit der Ruhe. Du bekommst das Zimmer ganz hinten. Es ist das Arbeitszimmer, das ich ohnehin nie benutze. Die Kinder habe ich in meinem Zimmer untergebracht. Du schläfst gleich nebenan. Ach übrigens: Der Aufzug ist außer Betrieb.«
Sandrine sprach zu schnell – ein Zeichen, dass sie nervös war. In der letzten Nacht hatte sie nicht geschlafen, sondern sich jede Einzelheit genau durch den Kopf gehen lassen, während sie gleichzeitig die Wohnung gründlich putzte. Zwischen drei und fünf Uhr morgens.
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
»Indem du wieder ganz fit wirst. Ihr bleibt, solange es notwendig ist.«
»Ich warne dich«, lachte Naoko, »mit den Jungs wird das eine ziemlich sportliche Angelegenheit.«
»Das kriegen wir schon hin. Mach dir keine Gedanken. Ich muss jetzt zurück in die Klasse, habe aber in einer Stunde frei. Wir treffen uns und holen die Kinder zusammen ab. Also, das letzte Zimmer ganz hinten. Bis später.«
Sandrine legte auf, blieb unbeweglich mitten im Schulhof stehen und schloss die Augen. Endlich. Sie hatte es geschafft. Sie kamen zusammen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte etwas funktioniert. Ironischerweise vermutlich auch zum letzten Mal.
An diesem Morgen hatte sie die Resultate ihrer letzten Untersuchung bekommen. Ihre Blutplättchen befanden sich im freien Fall, außerdem hatten sich neue Metastasen gebildet. Sie brauchte die Zusammenfassung am Ende der Seite gar nicht erst zu lesen. Sie hatte das vierte Stadium erreicht. Auf einer Skala von vier.
Sie öffnete die Augen. Die hohen Fassaden des Lycée Arthur Honegger umgaben sie. In diesem Gymnasium lehrte sie seit fast zwanzig Jahren. Die Fenster sahen aus, als gehörten sie zu einer Fabrik. Die Mauern
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