Die Wahrheit des Blutes
Gefühls zwei Tage zuvor. Instinktiv hatte sie es vorgezogen, ins Hotel zu gehen, statt bei ihrer Freundin zu schlafen. Aber warum?
Am Ende des Flurs befand sich das Arbeitszimmer, das Sandrine für sie vorgesehen hatte. Einen Futon hatte sie bereits ausgebreitet. Naoko begann ihre Kleider in den Schrank zu hängen, doch schnell gingen ihr die Bügel aus. In den Schränken nebenan entdeckte sie die Kleidung der Kinder, aber auch hier war kein Bügel mehr frei. Schließlich schob sie alle Anstandsregeln beiseite und ging in Sandrines Zimmer, um sich dort einen zu besorgen. An einer Wand stand ein großer Schrank, die anderen Wände waren kahl. Kein Bild, kein Poster, kein Schmuck. Sandrine lebte tatsächlich wie eine Nonne. Eigentlich fehlte nur das Kruzifix über dem Bett.
Naoko öffnete die erste Tür und entdeckte eine Reihe von Vintage-Kleidern. Scheußliche, geblümte oder sehr bunte Teile, die geradewegs aus Woodstock zu stammen schienen. Auch hier gab es keinen freien Kleiderbügel. Sie rüttelte an den anderen Türen, doch die waren verschlossen. Dabei fiel ihr etwas auf. Im Scharnier war ein Stück Stoff eingeklemmt, und zwar handelte es sich nicht etwa um irgendeinen x-beliebigen Stoff, sondern um bemalte Seide. Selbst anhand dieses kleinen Stücks war die hervorragende Qualität gut zu erkennen. Während ihrer gesamten Kindheit hatte Naoko ihre Mutter Kimonos tragen sehen. Mit teurer Seide kannte sie sich bestens aus.
Was aber hatte eine solche Kostbarkeit in Sandrines Schrank zu suchen? Es musste ein Stück sein, das mehrere Tausend Euro gekostet hatte und einen ähnlich teuren Obi benötigte. Naoko war sich nicht einmal sicher, ob man so etwas in Paris überhaupt kaufen konnte.
Erneut versuchte sie, die Türen zu öffnen, aber es gelang ihr nicht. Schließlich ging sie ins Bad und kam mit einer Schere zurück. Ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen ließ sie die Klinge in den Spalt zwischen den Türen gleiten und hebelte das Schloss aus. Die Schranktür glitt zur Seite.
Angesichts des Inhalts blieb ihr der Mund offen stehen. Kimonos – nichts als Kimonos. Ein ganzer Schrank voll. Weiße Iris und grüner Bambus, rosa Päonien und blauer Himmel, Kirschblüten und Mondschein … Daneben hingen Obis. Schwere Seide, veilchenfarben, lackgrün und herbstrot. Am meisten schockierte sie zunächst, dass die Kimonos auf Bügeln hingen. In Japan faltete man sie und bewahrte sie zwischen Seidenpapier auf.
Und dann fiel ihr plötzlich die nächtliche Besucherin ein. Nein! Unmöglich! Naokos Blick wanderte in den hinteren Teil des Schranks, wo Sandrine Getas aus Holz und die weißen Socken namens Tabi aufbewahrte, bei denen der große Zeh abgenäht ist. In den oberen Regalen lagen Kanzashi, zu hohen Aufsteckfrisuren frisierte Nylonperücken, deren Haar von goldenen Spangen gehalten wurde.
Naoko schlug sich die Hand vor den Mund, als sie hinter sich plötzlich eine Stimme hörte:
»Es ist nicht so, wie du denkst …«
Naoko schrie auf und wandte sich um. Immer noch hielt sie die Schere in der Hand. Sandrine stand auf der Schwelle. Sie sah ziemlich zerrupft aus, und das Haar hing ihr wild ins Gesicht. Ihr zu dick aufgetragenes Make-up war verschmiert.
»Keinen Schritt näher«, schrie Naoko und fuchtelte mit der Schere.
Sandrine hörte nicht auf sie. Sie zitterte noch heftiger als Naoko.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Leg bitte die Schere weg.«
»Du warst das also, ja? Du willst wohl wieder mit Olivier zusammenkommen?«
Sandrine lachte auf. Trotz ihrer Erschöpfung wirkte sie fahrig und erregt.
»Olive hat nicht alle Tassen im Schrank und ist ein Grobian«, erklärte sie geringschätzig. »Du kennst ihn längst nicht so gut wie ich. Außerdem – was hättest du denn dagegen? Lasst ihr euch nicht gerade scheiden?«
Sie sah aus wie ein trauriger Clown. Ihre Schminke zeigte Risse wie vertrocknete Erde. Zu schwarzes Kajal, zu viel Puder, zu roter Mund. Und in diesem Augenblick erst entdeckte Naoko, dass Sandrine eine Perücke trug. Wieso hatte sie das noch nie bemerkt?
Sandrine bewegte sich immer noch vorwärts. Naoko wich zurück.
»Du bist diejenige, die ich bewundere«, flüsterte Sandrine mit seltsamer Stimme. »Ich liebe dich …«
Sie streckte ihren Arm zum Schrank aus und streichelte über die Kimonos.
»Jeden Abend verwandle ich mich in dich und werde zur Japanerin.«
»Was redest du da?«
»Du und ich, wir werden zusammen leben und uns gemeinsam um Shinji
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