Die Wahrheit des Blutes
dass er es nicht tun würde. Er hasste Beerdigungen.
An einem Samstagabend gegen Mitternacht sind die Recherchemöglichkeiten eher dünn gesät. Trotzdem rief er Jean-Pierre Jost von der Steuerfahndung an, der maßgeblich an der Entdeckung von Guillards Holding beteiligt gewesen war. Jost, der gerade mit seiner Familie vor dem Fernseher saß, ließ seinem Ärger freien Lauf. Calvini hatte ihn identifiziert und ihm kräftig den Kopf gewaschen, weil er Informationen an Unbefugte weitergegeben hatte.
Passan berichtete, wie die Geschichte zu Ende gegangen war, und erzählte von seinen Verbrennungen. Daraufhin beruhigte sich Jost. Passan nahm diesen Stimmungsumschwung sofort zum Anlass, ihn um einen weiteren Gefallen zu bitten.
»Es geht um Leben und Tod«, erklärte er.
»Für wen?«
»Für mich. Meine Frau. Meine Kinder.«
Jost räusperte sich, schrieb sich aber die genaue Adresse und alle Daten von Sandrine Dumas auf.
»Ich rufe zurück.«
Passan brühte sich einen starken Kaffee auf. Das leere Haus bedrückte ihn. Trotz der brennenden Lichter kam es ihm düster vor. Eine Einöde aus Beton. Das Refugium einer vergangenen Epoche.
Mit der Tasse in der Hand wollte er sich gerade wieder an seinen Schreibtisch setzen, als sein Handy klingelte. Jost rief schon zurück. Für einen Spezialisten seines Kalibers stellte es keine große Herausforderung dar, die Konten einer gewissen Sandrine Dumas zu überprüfen. Die Ergebnisse waren entsprechend. Sie spiegelten das triste Leben einer Vierzigerin wider, die ihr Dasein zwischen ihrer Wohnung und der Schule fristete. Es gab nur einen einzigen Ausreißer: Ende April hatte Sandrine einen Kredit in Höhe von 20000 Euro aufgenommen.
Ein weiteres markantes Ereignis hatte unmittelbar mit dem ersten zu tun. In einer Boutique auf der Île de la Cité hatte Sandrine für 14000 Euro Kimonos und für weitere 3000 Euro Obis erstanden. Vor dem großen Abschied hatte sie sich noch einmal etwas gegönnt …
Passan dankte Jost und überließ ihn wieder dem Fernsehprogramm. Die Neuigkeiten brachten keine Klarheit in die Ereignisse, untermauerten aber das, was Naoko berichtet hatte. Passan empfand Trauer um seine langjährige Bekannte. Kurz vor ihrem Tod war Sandrine in Liebe zu ihrer japanischen Freundin entbrannt. Das Gefühl war vermutlich schon länger vorhanden, hatte sich aber mit der fortschreitenden Krankheit zur Leidenschaft verstärkt. Die todgeweihte Frau hatte auf ein Wunder gehofft: Sie wollte Naoko nah sein und Trost in den religiösen Mythen des Inselreichs finden.
Bei dieser Überlegung musste Passan wieder an Naoko denken. Immer noch erschien es ihm am wahrscheinlichsten, dass seine Frau ein Geheimnis vor ihm hatte. Bei Naoko war wirklich alles möglich. Ihre undurchdringliche Persönlichkeit und ihr unnachgiebiger Egoismus äußerten sich in so vielen Dingen. Da waren die Entbindungen in Japan. Die eifersüchtige Verwaltung ihres Geldes – sie hatten nie ein gemeinsames Konto besessen. Ihre Manie, mit den Kindern Japanisch zu sprechen, durch die er sich ausgeschlossen fühlte. Und jetzt ihre Absicht, mit Shinji und Hiroki nach Japan zurückzukehren.
Wie hatte er nur zehn Jahre mit ihr verbringen können? So viele Gegensätze und am Schluss eine Sackgasse.
Seine Wut flackerte wieder auf wie eine Flamme in der Dunkelheit. Um sie nicht erlöschen zu lassen, ließ er alles Revue passieren, was er an Naoko hasste. Ihren Tee zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ihre Art, die Tasse bis zum Rand zu füllen. Ihre Leidenschaft für Schönheitsprodukte, die sich auf den Regalen ansammelten. Ihre Angewohnheit, ständig irgendwelche Kleinigkeiten zu verschenken, was eher ein Anzeichen für Pedanterie als für Großzügigkeit war. Ihre stundenlangen Badeorgien. Ihre dauernde Gurgelei, sobald sie zu Hause ankam. Ihr holpriger Akzent, den er manchmal unerträglich fand. Ihre Angewohnheit, jeden Satz mit »Nein« zu beginnen. Der Rückgriff aufs Englische, wenn ihr ein französisches Wort nicht einfiel. Und vor allem ihre schwarzen, schrägen undurchdringlichen Augen, die nichts offenbarten, aber alles an sich rissen.
Auf die Dauer war Naoko zu einer Krankheit geworden, zu einer Lepra, die sein Ideal, seine idealisierte Ansicht von Japan zerfraß. Mit geballten Fäusten schloss Passan die Augen, um sie in den Flammen seines Zorns verbrennen zu sehen.
Doch das genaue Gegenteil geschah.
Plötzlich erinnerte er sich des tiefen Einvernehmens, das sie immer vereint hatte. Passan mochte
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