Die Wahrheit des Blutes
MIR.«
Was hatte die Mörderin mitteilen wollen? Hatte Naoko ihr etwas Wertvolles gestohlen? Informationen vielleicht? Oder wies der Satz auf die Familie hin? Auf einen Ex? Nein – das alles passte nicht. Naoko hatte Japan als sehr junge Frau verlassen und kehrte nur von Zeit zu Zeit zu kurzen Familienbesuchen zurück. Immer wieder hatte sie betont, dass sie ihren Schritt nicht bereute und alle Brücken hinter sich abgebrochen hätte.
Plötzlich kam Passan der Gedanke, dass sie vielleicht vor etwas geflohen war.
Er knipste die Lampe an, setzte sich an seinen provisorischen Schreibtisch und dachte weiter nach. Es gab noch eine Möglichkeit: seine eigenen Spuren in Japan.
Aber was konnte es sein? Er hatte an kleineren Fällen mitgearbeitet und flüchtende Betrüger, versteckte Geldhaie, zahlungsunwillige Ehemänner, Markenpiraten und Hardwareschmuggler verfolgt. Er hatte keine Freundschaften geschlossen, keine engeren Beziehungen zu Japanern gepflegt und war auch anderen Ausländern aus dem Weg gegangen, weil er fürchtete, sie könnten ihm die Butter vom Brot nehmen. Er empfand Japan als sein persönliches Paradies, in dem er sich lieber allein aufhielt.
Blieben die Frauen. Aber auch auf diesem Gebiet gab es keine besonderen Vorkommnisse. Sie schwirrten durch seine Träume und nährten seine Fantasien, ohne dass er je ein Abenteuer gehabt hätte. Jeden Abend widmete er sich mit Hingabe japanischen Pornos, in denen Frauen die Opfer und Männer die Schinder waren. Tagsüber verliebte er sich ungefähr jede Stunde einmal neu, je nachdem, was für Damen vorüberkamen. Er lebte eine virtuelle Art der Liebe, bei der er dennoch immer seiner persönliche Zweiteilung treu blieb: Es gab die Hure, und es gab die Madonna.
Gegen elf tauchte er aus seinen Gedanken auf. Es war Zeit, eine Grabrede für Sandrine zu schreiben.
Passan war der festen Überzeugung, dass seine beste Freundin trotz der Kimonos und Obis nichts mit den Verbrechen zu tun hatte. Sie war ein Kollateralschaden gewesen, was wiederum bedeutete, dass der Anschlag in Le Pré-Saint-Gervais Naoko gegolten hatte. Trotzdem musste er ein paar Fragen zu der Toten stellen, und wenn es auch nur dazu diente, sein Gewissen zu beruhigen. Anfangen könnte er damit, ihre E-Mails und ihr Facebook-Konto zu durchsuchen, was ihm allerdings nicht besonders lag. Er arbeitet lieber auf herkömmliche Weise.
Er griff zum Hörer seines Festnetztelefons und durchsuchte sein Adressbuch. Als Sandrine noch lebte, hatte er so gut wie nie an sie gedacht. Sie gehörte zu einer Lebensphase, die er gern unter den Tisch kehrte. Die Zeit seiner Rückkehr aus Japan. Die Arbeit in der Rue Louis Blanc. Seine Depression.
»Hallo?«
Passan hatte die Nummer von Nathalie gewählt, Sandrines jüngerer Schwester, die er flüchtig kannte. Nachdem er ihr sein Beileid ausgesprochen hatte, fragte er sie nach der Krankheit ihrer Schwester. Nathalie war noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Die Familie hatte gewusst, dass Sandrine bald sterben würde – aber nicht durch ein Schwert. Mit wenigen Worten schilderte sie Passan das rasend schnelle Fortschreiten der Krebserkrankung. Im Februar hatte man bei einer Routinekontrolle einen Tumor in der linken Brust gefunden. Eine genauere Untersuchung ergab, dass sich bereits Metastasen in der Leber und im Uterus gebildet hatten. Es war längst zu spät für eine Operation. Die erste Chemotherapie hatte für einen kurzen Aufschub gesorgt. Dann erlitt Sandrine einen Rückfall und bekam kurz darauf die zweite Chemo. Das war im Mai. Mitte Juni stand fest, dass ihr nicht mehr zu helfen war.
Aus Höflichkeit erkundigte sich Passan nach dem Zeitpunkt der Beisetzung und erfuhr, dass Sandrine am kommenden Dienstag auf dem Friedhof von Pantin beerdigt werden sollte. Ein wenig abrupt leitete Passan zu Sandrines Privatleben über. Nathalie antwortete, sie wisse von keinem Liebhaber. Ihre Schwester hätte ein geregeltes, zurückhaltendes und eher freudloses Leben gelebt. Eine alte Jungfer. Das Wort wurde zwar nicht ausgesprochen, aber es klang in jedem Satz mit. Am liebsten hätte Passan noch eine Frage zur wahren Natur von Sandrines Sexualität gestellt, doch das wagte er nicht.
Er versuchte es mit einem anderen Thema: Sandrines Leidenschaft für Japan. Davon hatte ihre Schwester noch nie gehört. Und schon gar nicht von kostspieligen Kimonos und Nylonperücken.
Passan bedankte sich bei Nathalie und versprach, zur Beerdigung zu kommen, obwohl er jetzt schon wusste,
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