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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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die Art, wie Naoko ihrer Liebe Ausdruck verlieh. Keine Überschwänglichkeiten, keine ständigen Liebesbezeugungen (in Japan sagt niemand »Ich liebe dich«), aber auch keine Vorwürfe wie »Immer legst du als Erster auf« und ähnliche Nickeligkeiten, die er nie gut hatte ertragen können.
    Passan musste an einen Satz von Pierre Reverdy denken, den Jean Cocteau in seinem Drehbuch zu Robert Bressons Film Die Damen vom Bois de Boulogne verwendet hatte: »Es gibt keine Liebe, sondern nur Liebesbeweise.« Passan erhob diesen Satz zu seiner persönlichen Maxime, weil er seiner Meinung nach eine tiefe Wahrheit ausdrückte: In der Liebe zählen nur die Taten. Worte kosten schließlich nichts.
    Naoko allerdings benutzte so selten Worte, dass sie von selbst zu Taten wurden. Wenn sie ihm – was höchstens ein- oder zweimal vorgekommen war – mit ihrem bezaubernden Akzent nachts ein »Ich liebe dich« ins Ohr geflüstert hatte, war es ihm vorgekommen, als schaue er mitten in der Wüste unter einem Sternenhimmel in das Wasser eines Brunnens.
    Es waren diese Worte gewesen, die seinem Leben einen Sinn gegeben hatten.

72
    »Guillard hat alles zugegeben.«
    »Wie das?«
    »Er hat mir ein Bekenntnisschreiben geschickt.«
    Passan stand vor Ivo Calvinis Haus und sah den Richter überrascht an. Zwar lagen seine Augen noch immer tief in ihren Höhlen und wirkten fiebrig, aber sein schreiend blauer Trainingsanzug und seine makellos weißen Turnschuhe ließen ihn fast komisch erscheinen. Auch sein Haus war erstaunlich bodenständig – ein Kalksteinbau mitten in Saint-Denis, der wie ein Bergarbeiterhäuschen aussah. Untersuchungsrichter Calvini, Absolvent der ENA – einer der angesehensten Eliteschulen für Verwaltung –, war auch nur ein kleiner Vorstadtbewohner.
    »Wie haben Sie es erhalten?«, erkundigte sich Passan.
    »Ganz normal mit der Post. Eine Abrechnung post mortem sozusagen.«
    Der Beamte bewies tatsächlich Humor. Auch das war Passan neu. Aber auch die gesamte Situation war irgendwie eine Besonderheit: Immerhin hatte ihn der Richter an einem Sonntagmorgen um neun Uhr zu sich nach Hause bestellt. So etwas hatte es noch nie gegeben.
    »Kommen Sie doch bitte herein.«
    Calvini trat einen Schritt zur Seite, um Passan in den Garten zu lassen. Nachdem sie eine Rasenfläche überquert hatten, wies Calvini auf eine Gruppe schmiedeeiserner Gartenmöbel, die unter einer großen Eiche standen.
    »Warten Sie bitte hier. Heute ist es ja nicht sehr kalt. Ich hole den Brief. Möchten Sie einen Kaffee?«
    Passan nickte.
    Seit dem Vortag hatte er nichts gegessen oder getrunken und war mit dem Gefühl sehnsüchtiger Verliebtheit in einen komatösen, traumlosen Schlaf gefallen. Um fünf Uhr morgens war er aufgewacht und höchst verblüfft über seinen Leichtsinn. Seine Kinder befanden sich in Gefahr. Seine Frau lag im Krankenhaus. Eine mit einem Katana bewaffnete Mörderin machte Paris unsicher. Und was tat er? Er schlief. Schnell war er zum Hotel Pullman Montparnasse gefahren, um seine Kinder zu sehen, und hatte leise ein paar Worte mit Fifi gewechselt. Jaffré und Lestrade schnarchten auf den Sofas.
    »Kannst du dich heute um die Kinder kümmern?«
    »Klar doch. Schließlich ist das mein Job.«
    »Was habt ihr heute vor?«
    »Entweder Aquaboulevard oder Foire du Trône. Ich weiß es noch nicht genau.«
    Mehr gab es nicht zu sagen. Weder über die vergangene Nacht noch über den kommenden Tag. Es war Sonntag, und die Ermittlungen mussten während der nächsten vierundzwanzig Stunden ruhen. Im Übrigen waren es nicht ihre Ermittlungen …
    Auf den Gartenmöbeln glitzerten Tautropfen. Passan wischte einen Stuhl ab und setzte sich. Hier war es auffallend still, man hörte weder Autos, noch roch man Abgase. Dafür erklang ein vielfältiges Vogelkonzert. Hob man jedoch den Kopf, wusste man sofort, wo man sich befand. Jenseits der Begrenzungsmauer ragten hohe Wohn- und Bürotürme in den Himmel. Das Haus des Richters lag nur wenige Hundert Meter von der Wohnsiedlung Francs-Moisins entfernt. Der Beamte lebte mitten im Jagdgebiet des Geburtshelfers.
    Calvini kam mit dem Brief, einer Kaffeekanne, Zucker und Tassen zurück in den Garten. Er war so dürr wie ein Skelett, doch selbst in seinem scheußlichen Trainingsanzug strahlte er eine gewisse Noblesse aus.
    Er setzte sich neben den Kommissar und legte alles Mitgebrachte auf dem Tisch ab. Ein paar Sekunden lang musterte er Passans verbranntes Gesicht. Nicht ohne Bewunderung, aber auch mit

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