Die Wahrheit des Blutes
einer gewissen Betretenheit.
Passan fühlte sich unbehaglich.
»Wohnen Sie schon lange hier?«, fragte er, um seinen Gastgeber abzulenken.
Der Beamte setzte sein berühmtes schiefes Lächeln auf.
»Können Sie sich mich in einem gutbürgerlichen Haus im 17. Arrondissement vorstellen?«
»Durchaus.«
»Nun, ich bin Richter im 9–3 und lebe in meinem Bezirk. Ich bin wie diese Architekten, die sich darauf versteifen, in ihren eigenen Hühnerkäfigen zu wohnen. Zucker?«
»Nein danke.«
»Und Sie? Wo wohnen Sie?«
Calvini füllte Passans Becher. Der Duft des frischen Kaffees mischte sich mit dem Geruch der feuchten Erde.
»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht mehr so genau«, begann Passan zögernd. »Ich besitze eine Villa in Suresnes, aber … Es ist ziemlich kompliziert.«
Calvini fragte nicht weiter, sondern schob den in einer Plastikhülle verwahrten Brief über den Tisch.
»Hier ist die Beichte von Guillard. Wir haben sie gestern Morgen erhalten, und ich muss sagen, sie ist einigermaßen … beeindruckend. Das hier ist selbstverständlich eine Kopie.«
Unter der durchsichtigen Hülle erkannte Passan mehrere mit Kugelschreiber beschriebene Seiten. Es war eine kleine rundliche Kinderschrift. Die Schrift eines Menschen, der nicht lange zur Schule gegangen ist.
»Und was steht ungefähr drin?«
»Dass Sie recht hatten. Und zwar auf der ganzen Linie. Guillard war der Geburtshelfer. Er wurde als echter Zwitter geboren. Mit dreizehn machte man ihn operativ zu einem Jungen. Durch die folgende Testosteronbehandlung und seine Wut wurde er gewalttätig. Er hat angefangen, Geburtskliniken anzuzünden und …«
Mit einer Handbewegung schnitt Passan dem Richter das Wort ab.
»Ich habe nie aufgehört, gegen Guillard zu ermitteln, und kenne seine Geschichte in- und auswendig. Aber wer gibt Ihnen die Gewissheit, dass er wirklich der Geburtshelfer war?«
»Er beschreibt hier Einzelheiten der Morde, die niemand außer ihm, Ihnen und mir wissen kann.«
Passan überflog die Seiten, empfand aber nicht die geringste Befriedigung. Er hatte den Eindruck, eine Art Friedensvertrag in der Hand zu halten. Oder eher einen brüchigen Waffenstillstand, der nur bis zur nächsten Mordserie eines Verrückten hielt.
»Die letzten Seiten sind ziemlich verwirrend«, fuhr Calvini fort. »Da faselt er von Orakeln und antiken Wahrheiten. Außerdem steht da, dass er Sie …«
»Er hielt mich für seinen gefährlichsten Feind.«
»Nicht nur das. Es gibt da einige Seiten, die Ihnen vielleicht peinlich sein könnten. Wie es aussieht, war sein weiblicher Teil in Sie verliebt.«
Auch das hatte Passan gespürt, aber es hatte ihn nicht gestört. Im engen Zusammenleben mit dem Bösen hatte er sich an derlei Dinge gewöhnt, und sie hatten ihn in gewisser Weise sogar gestärkt.
»Hat er von Levy geschrieben?«
»Er gibt zu, ihn getötet zu haben, ohne allerdings näher darauf einzugehen. Er schildert es eher als Unfall. Wissen Sie Näheres darüber?«
Passan berichtete über die Handschuhe. Calvini nahm einen Schluck Kaffee.
»Ich werde den Vorfall überprüfen. Sollten Sie recht haben, dürfte es schwer werden, Hauptkommissar Levy mit allen Ehren zu begraben.«
Passan begann zu frieren. Die Brandwunden im Gesicht machten ihm wieder zu schaffen. Vor lauter Wut darüber, dass er eingeschlafen war, hatte er am Morgen keine Tablette genommen. Sein Zwei-Tage-Bart juckte, doch er durfte sich auf keinen Fall kratzen.
»Am Schluss kündigt Guillard seinen Selbstmord an. Mit diesem Geständnis sind Sie aus dem Schneider.«
»Wurde ich etwa verdächtigt?«
»Eigentlich von allen.«
»Und was genau soll ich verbrochen haben?«
»Ihn ins Feuer gestoßen haben.«
»Und mich selbst auch?«
»Nun, im Handgemenge … Aber Guillard bekennt in seinem Brief, dass er mit Ihnen zusammen verbrennen wollte. Übrigens schreibt er über Sie, als weilten Sie schon nicht mehr unter den Lebenden. Er war sicher, dass er Sie mit in den Tod nehmen würde.«
»Hat er den Brief noch an andere Stellen geschickt?«
»Offenbar wissen die Medien noch nichts. Gott sei Dank. Wir haben also noch die Möglichkeit, die Sache einigermaßen präsentabel hinzubiegen.«
Guillard scheute die Öffentlichkeit und wollte sicher nicht berühmt werden. Er misstraute der Welt. Für ihn zählte nur ein einziger Mensch: Passan. Wäre er davon ausgegangen, dass Passan das Brandopfer überlebte, hätte er den Brief sicher an ihn geschickt.
»Dann bin ich also …
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