Die Wahrheit des Blutes
in Polizeigewahrsam hatte er ihn einmal genommen, und zwar Mitte Mai, unmittelbar nach der Opferung der dritten Mutter. Zu seinem Glück gestattete ein neues Gesetz seit April 2011 jedem Verhafteten einen Rechtsbeistand. Sein Anwalt hatte es schnell geschafft, Öl auf die Wogen zu gießen.
Gleich danach hatte er Passan verklagt, gegen ihn ausgesagt und die Nötigung ausführlich beschrieben. Sein Anwalt hatte die sofortige Suspendierung Passans gefordert, dessen Verdienste jedoch zu seinen Gunsten gewertet wurden. Der Kommissar konnte die Ermittlungen weiterführen, durfte sich seinem Hauptverdächtigen jedoch nicht mehr nähern. Dieser galt jetzt nicht nur als unschuldig, sondern auch als unberührbar.
Vielleicht hätte er auf seine Wiedergeburten verzichten sollen, aber dazu war er nicht in der Lage. Für ihn waren sie eine Frage von Leben und Tod. Er war viel vorsichtiger geworden und hatte seine Methode abgewandelt. Das Einzige, was er nicht verändert hatte, war der Ort der Opferung. Und das hätte ihn um Haaresbreite seine Freiheit gekostet.
Er öffnete eine neue Dose. Das kühle Getränk kribbelte in seiner Kehle. Er schloss die Augen und erinnerte sich an ein Bild reinster Sinnlichkeit. Als er mit dem Polizisten zum Fuß des Hangs abgerutscht war, glaubte er, sterben zu müssen. Gleichzeitig jedoch fühlte er sich beschützt. Aus ihm war sie geworden. Alle Angst schmolz hinweg, um sich in ungeahnte Lust aufzulösen. Sie hatte sich ihm hingegeben, den Feind willkommen geheißen und ihm in unsäglicher Erregung die Arme geöffnet.
»Wir sind da, Chef.«
Bei der Erinnerung waren ihm die Tränen gekommen. Er richtete sich auf und wischte sich über die Augen. Die einfache Bewegung rief einen scharfen Schmerz hervor, der von der unteren Wirbelsäule bis in seinen Nacken zuckte.
Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zurechtzufinden. Sie hatten vor dem Gitter zu seiner Einfahrt gehalten. Rechts und links des Bürgersteigs standen hübsche Villen.
»Lassen Sie mich hier aussteigen und fahren Sie in die Werkstatt zurück.«
Sein Chauffeur, der ungefähr so gesprächig war wie ein Fisch, nickte nur. Über das zerschundene Gesicht seines Chefs und die Stunden im Krankenhaus hatte er kein einziges Wort verloren. Insgeheim war Guillard dem Mann dafür dankbar. Er beglückwünschte sich zu diesem Schatten, der ihn täglich herumkutschierte, ohne je eine Frage zu stellen.
Ein wenig schwerfällig stieg er aus dem Auto. Im Geiste stellte er bereits eine Liste der Pflanzen und chinesischen Tinkturen zusammen, die er zur Linderung seiner Schmerzen einnehmen wollte. Schon jahrelang verließ er sich nicht mehr auf die westliche Medizin – mit Ausnahme von Sève de Vie. Während seiner Jugendzeit war sein Körper mit viel zu vielen Arzneimitteln, Wirkstoffen und Medikamenten vollgestopft worden. Indem er darauf verzichtete, bekundete er seine Abwendung von einer Zivilisation, die ihn gebrandmarkt und ausgestoßen hatte.
Die Sonne hatte sich wieder einmal hinter dicken dunklen Wolken verborgen. Der einsetzende Regen überzog das schmale Sträßchen mit einer grauen schmutzigen Lackschicht. Er wanderte an den Villen entlang. Sein Muskelkater stammte nicht nur von den Schlägen. Der Jäger hatte auch die Opferung unterbrochen. Der Prozess der Wiedergeburt war nicht zu Ende geführt worden.
Er fühlte sich ausgehungert und unbefriedigt.
Dagegen gab es nur ein Mittel.
11
Sandrine Dumas parkte vor einer Toreinfahrt. Dabei rammte sie einen Steinklotz, den sie nicht bemerkt hatte. »Scheiße«, schimpfte sie. Leise vor sich hinfluchend stieg sie aus, verzichtete darauf, sich den Schaden anzusehen und bog in die Rue de Ponthieu ein. Ihr Haar war ziemlich zerzaust.
Sie kam wieder einmal zu spät.
Seit zwölf Jahren kannte sie Naoko nun schon, war aber noch nie pünktlich zu ihren Treffen erschienen. Einmal hatte sie versucht, der Freundin das Prinzip des akademischen Viertels zu erklären, doch als sie Naokos verblüfftes Gesicht sah, ließ sie das Thema rasch wieder fallen. Sie erinnerte sich eines Dokumentarfilms über Japanerinnen, die in der Lage waren, acht Stunden lang ohne Unterbrechung Perlen zu sortieren. Das Bild der schwarzen, weit geöffneten Augen, die so präzise arbeiteten wie ein Mikroskop, hatte sich ihr eingeprägt. Die Frauen schienen mit einer Art erstaunter Konzentration zu arbeiten. Der Eindruck wurde noch verstärkt durch die Mongolenfalte, die manchmal den Eindruck leichten Schielens
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