Die Wahrheit des Blutes
ist mit dir?«, fragte sie unvermittelt. »Bist du ganz sicher, dass du ihn nicht mehr liebst?«
»Wen?«
»Passan.«
»Das ist längst nicht mehr die Frage.«
»Sondern?«
»Bei uns herrscht Totalausverkauf. Seit zehn Jahren leben wir zusammen, aber ich weiß nicht einmal, ob wir überhaupt gemeinsame Erinnerungen haben. Ich empfinde noch immer eine tiefe Zärtlichkeit für ihn. Und Mitleid. Aber auch Wut. Und …« Sie hielt inne. In ihren Augen standen Tränen. »Ich glaube, es ist wirklich wichtig, dass wir so schnell wie möglich nicht mehr unter einem Dach wohnen. Wir ertragen uns nicht mehr, verstehst du?«
Sandrine nahm sich noch eine der kleinen Köstlichkeiten aus Reis und rohem Fisch, die sie ohne zu kauen hinunterschluckte. Mein Gott, war das gut!
»Also wirklich, diese Lachsdinger …«
Plötzlich stützte Naoko ihre Ellbogen auf den Tisch, als wäre ihr eine Idee gekommen.
»Ich möchte dir ein Geheimnis verraten«, flüsterte sie und beugte sich über den Tisch.
»Super. Ich mag Geheimnisse.«
»Solltest du je nach Japan kommen, wirst du niemals Sushi mit Lachs bekommen.«
»Nicht? Warum nicht?«
»Weil es viel zu schwere Kost ist.«
Sandrine zwinkerte ihr zu und nahm sich ein weiteres Häppchen.
»Du meinst, so ähnlich wie die Franzosen?«
Endlich lächelte Naoko und nahm sich eines der koreanischen Maki.
12
Seit einer Stunde ordnete Passan Vernehmungsprotokolle, Autopsieberichte, Zeugenaussagen und andere Papiere, die im Verlauf der viermonatigen Ermittlungen zu den Morden des Geburtshelfers zusammengekommen waren. Alles in allem mindestens fünf bis sechs Kilo Papier.
Offiziell war er dabei, die Akten zu sichten, ehe er sie an seinen Nachfolger weitergab. In Wirklichkeit jedoch scannte er die wichtigsten Erkenntnisse ein und sicherte sie auf einem USB-Stick. Gleichzeitig druckte er sie aus, weil er sie mit nach Hause nehmen wollte, sozusagen zur Einweihung seiner neuen Unterkunft in Puteaux.
»Du hast ziemliche Scheiße gebaut, Passan«, sagte eine Stimme mit südfranzösischem Akzent.
Es war Polizeidirektor Michel Lefebvre, sein direkter Vorgesetzter. Er war tatsächlich eigens vom Quai des Orfèvres gekommen, um ihm den Kopf zu waschen! Das konnte man fast schon als Privileg ansehen. Passan erwartete den Rüffel bereits seit seinem Bericht, den er noch am späten Vormittag fertiggestellt hatte.
Schweigend fuhr er fort, Papiere in Aktenordner einzuheften, die er anschließend in Kartons auf dem Schreibtisch verstaute. Hinter ihm summte der Drucker. Er hoffte, dass Lefebvre dort nicht herumschnüffeln würde.
»Du hattest nicht einmal ein Interventionsteam dabei. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Der Lonesome Cowboy?«
Endlich hob Passan den Kopf und blickte seinen Vorgesetzten an, der elegant gekleidet wie immer vor ihm stand. Der Mann war über eins neunzig groß und ließ seine Anzüge maßschneidern. Mit seinem nach hinten gegelten, graumelierten Haarschopf, einem Hemd von Forzieri und seiner Milano-Krawatte setzte Lefebvre ganz und gar auf den italienischen Schick. Sein Problem dabei lag, abgesehen von seiner Körpergröße, in seinem Aussehen. Bei seiner vierschrötigen Figur und seinen markanten Landserzügen dachte man eher an General Patton als an Giorgio Armani.
Mit den Jahren hatte Lefebvre Fett angesetzt, aber eine Narbe auf seiner Stirn bewies, dass er nicht immer nur am Schreibtisch gesessen hatte. Passan wusste, dass sein Chef noch eine zweite, sehr viel längere Narbe auf der linken Körperseite besaß. »Die Echtheit eines Mannes ist wie ein Tattoo: Man entdeckt sie nur im Bett oder im Leichenschauhaus«, hatte Lefebvre einmal gesagt. Er selbst war der fleischgewordene Beweis für seinen eigenen Aphorismus.
Passan widmete sich weiter seinen Akten.
»Wer übernimmt die Ermittlungen?«, erkundigte er sich beiläufig.
»Levy.«
»Levy? Ausgerechnet der übelste Bursche, den die Kripo aufzubieten hat?«
»Er hat viel Erfahrung.«
»Klar. Erfahrung mit Schandtaten!«
Passan kannte Jean-Pierre Levy seit Jahren. Der Mann hatte eigentlich immer Spielschulden und war mit seinen Unterhaltszahlungen ständig in Verzug. Sowohl auf der Rennbahn als auch im Privatleben hatte er nie auf das richtige Pferd gesetzt. Schon mehrmals war er der aktiven und passiven Korruption angeklagt worden, aber die Nachforschungen der Polizeidirektion hatten nie etwas Konkretes ergeben. Trotzdem wussten alle Bescheid. Man munkelte von Amtsmissbrauch, Drogenhandel,
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