Die Wahrheit des Blutes
nirgends auch nur ein Tropfen Blut von Leila Moujawad – weder auf seinen Händen noch an seiner Kleidung.«
Passan hatte plötzlich den puderigen Geruch von Latex in der Nase, wusste aber genau, dass es nur Einbildung war.
»Er trug Chirurgenhandschuhe.«
»Haben Sie gesehen, wie er tötete? Oder verstümmelte? Den Brand legte?«
»Er ist bei unserer Ankunft sofort abgehauen.«
»Sie haben ihn mit der Waffe bedroht.«
Passan wollte antworten, doch es gelang ihm nicht. Seine Kehle war zu trocken.
»Die Polizei von Saint-Denis hat angefangen, die Nachbarn zu befragen«, fuhr der Untersuchungsrichter fort. »Niemand hat gesehen, wie er das Opfer in die Halle brachte. Es gibt keine Zeugen.«
»Ich treibe mich jetzt seit Wochen in den Vorstädten herum. Die Leute dort lassen sich lieber einen Arm abhacken, als mit den Bullen zu reden.«
»Aber ihr Schweigen ist gut für Guillard.«
»Sie wissen sehr genau, dass er der Mörder ist. Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt.«
»Das stimmt nicht. Sie haben weder etwas gesehen noch gehört. Unter Eid könnten Sie keine konkrete Aussage machen.«
Passan war kurz davor, zu explodieren. Das Spiel entglitt ihm.
»Wir streiten uns hier um Worte …«
»Nein, wir reden von Fakten. Patrick Guillard will Anzeige gegen Sie erstatten, weil Sie die Auflagen nicht erfüllt haben. Er spricht von Körperverletzung und Tötungsabsicht. Angeblich haben Sie versucht, ihn auf der Nationalstraße umzubringen.«
Jetzt begriff Passan, dass es ihm an den Kragen ging.
»Und was weiter?«
»Vor einer Stunde habe ich seine Freilassung bewilligt. Beten wir zum Himmel, dass er die Medien außen vor lässt. Durch Ihr Vorgehen haben Sie uns gezwungen, ihm außergewöhnlich weit entgegenzukommen.«
»Und ich?«
»Gegen Sie wird ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Die Akte liegt bereits bei Ihrem Vorgesetzten.«
»Dann bin ich raus aus dem Fall?«
Der Richter nickte. Sein verzerrter Mund schien Passan zu verhöhnen, doch seine Augen blickten müde, traurig und erschöpft.
»Was dachten Sie denn?«
Mit einer einzigen Handbewegung wischte Passan alles zu Boden, was sich auf dem Schreibtisch befand.
10
»Wo soll es hingehen, Chef?
»Nach Hause.«
Der Chauffeur fuhr los. Guillard machte es sich auf dem ledernen Rücksitz bequem und nahm die Halskrause ab, die man ihm im Krankenhaus umgelegt hatte. Mit diesem Ding sah er aus wie Erich von Stroheim in Die große Illusion . Er öffnete den Deckel der Armlehne, wo ein kleines Kühlfach untergebracht war, nahm eine Cola Zero heraus und seufzte zufrieden.
Sein Nacken schmerzte. Außerdem hatte er Muskelkater und verspürte ein Stechen in der Brust. Angesichts der Heftigkeit des Angriffs war er jedoch offenbar ganz glimpflich davongekommen. Als glimpflich konnte man auch die paar Stunden im Krankenhaus von Saint-Denis bezeichnen, die er unter polizeilicher Aufsicht hatte verbringen müssen.
Früh am Morgen hatte man ihm endlich gestattet zu telefonieren. Sein Anwalt brauchte nur zwei Stunden, um alles zu regeln.
Für Guillard war es in diesem Fall von Vorteil, dass sein Feind ihn schon früher belästigt hatte. Das aggressive Verhalten in der vergangenen Nacht tat noch ein Übriges. Sein Feind – in Wirklichkeit war er der Psychopath. Dass er die Leiche allerdings ausgerechnet in Guillards Werkstatt entdeckt hatte, war natürlich eine ziemlich dumme Sache. Auch wenn man ihm den Mord nicht anhängen konnte, bestand jetzt eine gewisse Verbindung zwischen der Werkstatt und der Opferserie, das war nicht zu leugnen. Zunächst einmal aber hatte Guillard alle Zeit der Welt, seine Verteidigung vorzubereiten. Er würde einen seiner Angestellten oder einen Kleinkriminellen aus dem Wohnblock in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken.
Abgesehen von der Adresse der Lagerhalle hatte sein Feind nichts Neues vorzuweisen – das wusste er, seit er ihn draußen im Clinch mit den jungen Männern gesehen hatte. Natürlich hatte er sofort reagiert und sich der einzigen Sache entledigt, die eine Verbindung zwischen ihm und der werdenden Mutter hätte nachweisen können. Auf seine Flucht war er nicht sonderlich stolz, aber es ging nun einmal nicht anders. In diesem Moment war nur wichtig gewesen, so viel Distanz wie nur möglich zwischen sich und sein Werk zu bringen. Er musste sich entfernen von dem, was das französische Recht ein »Verbrechen« nennt, um seinen Weg fortsetzen zu können: das Werk des Phönix.
Sein Plan hatte funktioniert. Trotz der
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