Die Wahrheit des Blutes
erweckte.
Die Vorstellung, eine leichte Unpünktlichkeit könne ein Ausdruck von Höflichkeit sein, rief bei Naoko einen ähnlichen Gesichtsausdruck hervor.
Im Laufschritt überquerte Sandrine die Avenue Matignon und zwang mehrere Autos zur Vollbremsung. Das wütende Hupen überhörte sie einfach. Immer noch murmelte sie mit leiser Stimme vor sich hin. Warum verlangte Naoko immer solche Dinge von ihr? Ein schnelles Mittagessen ausgerechnet zurzeit der dicksten Staus? Andererseits war sie selbst schuld, denn das Lokal hatte sie vorgeschlagen. Und außerdem begannen ihre nächsten Kurse erst um drei.
Vor dem Restaurant strich sie ihre Kleider glatt, atmete tief durch und betrat den Gastraum. Sandrine schwitzte wie ein Tier – eine der Nebenwirkungen ihrer Behandlung. Sie entdeckte Naoko sofort. Abgesehen von ihrer Grazie besaß die Japanerin eine weitere Eigenschaft, die andere Frauen vor Neid erblassen lassen konnte. Es war eine gewisse unverwüstliche Frische, die selbst die hübschesten Plakatschönheiten wie zerknitterte Makulatur aussehen ließ.
Manchmal brachte Naoko Sandrine japanische Kosmetikprodukte mit, die meist die Aufschrift Bihaku trugen, was ungefähr mit »blasse Schönheit« zu übersetzen war. Naoko konnte man als perfekte Inkarnation von Bihaku bezeichnen. Sie sah aus, als ernähre sie sich ausschließlich von Reis, Milch und Quellwasser. Was übrigens durchaus nicht stimmte: Naoko aß für drei und kannte sämtliche Konditoren von Paris. Manchmal versuchte Sandrine, sie sich dreißig Jahre älter vorzustellen. Aber das funktionierte nicht. Ihr Teint strahlte wie die Sonne, und es war unmöglich, sie sich anders auszumalen.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagte sie, als sie wieder zu Atem gekommen war.
Naoko antwortete mit einem Lächeln, das sowohl »wie immer« als auch »macht nichts« bedeutete. Sandrine stellte ihre Tasche ab und setzte sich. Als sie ihren Mantel auszog, schlug ihr der eigene Schweißgeruch geradezu erstickend entgegen. Auch das war eine Nebenwirkung der Chemo: Jede Art von Geruch raubte ihr den Atem und verursachte ihr Übelkeit.
»Hast du schon einmal in die Karte geschaut? Angeblich ist das hier der beste Japaner von Paris.«
Naoko schüttelte den Kopf.
»Was?«, rief Sandrine in gespielter Panik. »Ist es etwa kein Japaner?«
»Koreaner.«
»Scheiße. Ich habe einen Artikel in der Elle gelesen, der …«
»Vergiss es.«
Es war ein Running Gag zwischen ihnen. Seit Jahren bemühte sich Sandrine, mit Naoko die neuesten japanischen Restaurants zu entdecken, die dann tatsächlich in der Hälfte aller Fälle entweder von Chinesen oder von Koreanern betrieben wurden.
Sandrine schlug die Karte auf. Der kleine Fehlschlag war kein Grund, sich die Laune verderben zu lassen. Sie hatte vor, die Zeit, in der es ihr gut ging, aus vollem Herzen zu genießen. Seit einigen Tagen war ihr Geschmackssinn zurückgekehrt, nachdem sie wochenlang unter Mukositis gelitten hatte.
»Ich nehme Maki Moriawase. Ein paar leckere Sushi sind jetzt genau das Richtige.«
»Aber es sind keine Sushi, sondern Maki. Maki bedeutet soviel wie ›rollen‹.«
Naoko hatte in einem fast überheblichen, ein wenig verbitterten Ton gesprochen. Sandrine war längst klar, dass ihre Freundin einen schlechten Tag hatte.
»Und du?«, erkundigte sie sich ungezwungen. »Was nimmst du?«
»Eine Miso-Suppe wäre schon okay.«
»Sonst nichts?«
Die Japanerin antwortete nicht. Ihre Augen waren so schwarz, dass man unmöglich die Pupille von der Iris unterscheiden konnte.
»Hattest du wieder einmal Krach mit Olive?«
»Ach was. Er vergräbt sich in seinem Keller. Wir haben so gut wie keinen Kontakt. Und heute Abend zieht er ja ohnehin aus.«
Ein Kellner erschien und nahm ihre Bestellung auf.
Nach kurzem Schweigen beschloss Sandrine, dass es Zeit war, zur Sache zu kommen.
»Also jetzt mal raus mit der Sprache: Was ist los?«
»Nicht mehr und nicht weniger als sonst. Ich war heute Morgen schon beim Aufstehen schlecht gelaunt, sonst nichts. Meine Ehe ist ein absoluter Reinfall.«
»Sehr originell.«
»Du verstehst mich nicht. Ich habe den Eindruck, dass Olivier mich nie wirklich geliebt hat.«
»Ich kenne eine Menge Leute, die schrecklich gern auf diese Weise nicht geliebt würden.«
Naoko schüttelte den Kopf.
»Olivier liebt Japan. Er liebt ein Hirngespinst. Eine Idee. Etwas, das nichts mit mir zu tun hat. Außerdem hat er mich schon jahrelang nicht mehr angefasst …«
Sandrine
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