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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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unterdrückte einen Seufzer. Eine Stunde im Stau, um hier Seelentröstung zu betreiben. Aber sie beklagte sich nicht. Sie lauschte der Musik der Worte, die sie wunderschön fand – diesem köstlichen Akzent. Auch nach so vielen Jahren gelang es Naoko immer noch nicht, »r« und »ü« richtig auszusprechen.
    »Seine Gefühle für mich waren immer abstrakt«, fuhr Naoko fort. »Anfangs glaubte ich noch, dass sich die Vergötterung eines Tages normalisieren und er die Frau in der Japanerin suchen würde. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er ist in seine Besessenheit abgetaucht. Nächtelang sieht er sich Samurai-Filme an und liest Schriftsteller, deren Namen mir völlig unbekannt sind. Außerdem hört er altes, auf dem Koto gespieltes Zeug, das in Japan höchstens am Jahresende in den Kaufhäusern gedudelt wird. Würdest du gern mit einem Typen zusammenleben, der das ganze Jahr über ›O Tannenbaum‹ hört?«
    Sandrine lächelte, antwortete aber nicht. Der Kellner kam mit einem Teller in Schiffsform, auf dem der rohe Fisch mit rosafarbenem eingelegtem Ingwer und grünen Wasabitupfen angerichtet war. Sie freute sich auf den bevorstehenden Genuss. Seit bei ihr Krebs diagnostiziert worden war, erschien ihr selbst das winzigste Vergnügen wie die letzte Zigarette eines zum Tode Verurteilten.
    Naoko ergriff die Schüssel mit ihrer Suppe, blickte starr vor sich auf den Tisch und fuhr fort:
    »Momentan steht er auf alte, in den Shochiku-Studios produzierte Musicals. Er hat die CDs im Internet bestellt und hört sie mit dem Kopfhörer stundenlang in Endlosschleife an, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Findest du das nicht ein bisschen krank?«
    Sandrine setzte einen mitleidigen Ausdruck auf und nahm sich das nächste Röllchen aus Algen, Thunfisch und Reis. Den Bug des Schiffchens hatte sie bereits leer gegessen.
    »Wir sind jetzt zehn Jahre verheiratet, und ich weiß noch immer nicht, ob er begriffen hat, dass ich eine Frau bin. Ich glaube, er sieht in mir vor allem ein Ausstellungsstück in seinem Museum.«
    »Aber immerhin das wichtigste Meisterwerk.«
    Naoko machte ein skeptisches Gesicht. Sie hatte einen sinnlichen Mund. Im Profil sah man, dass sie ihre Unterlippe ganz leicht vorschob, was ihr eine animalische Grazie verlieh. Sandrine war nie in Japan gewesen, aber sie hatte einmal von einer Stadt namens Nara gehört, wo Hindinnen angeblich frei herumliefen. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass Naoko aus Nara stammte.
    »Für ihn ist es ein unverhofftes Glück, mit einer Japanerin verheiratet zu sein. Durch mich fühlt er sich von meinem Land akzeptiert. Es gibt dafür ein Wort: Wenn der König einen Mann zum Ritter wählt …«
    »Küren.«
    »Genau. Er fühlt sich von Japan erkoren. Sogar unsere Söhne sind ein Teil dieses Prozesses. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie ein genetisches Experiment sind – der Versuch, sein Blut mit dem meines Volkes zu vermischen.«
    Sandrine hätte Naoko gern erklärt, dass es Schlimmeres im Leben gibt. Wie zum Beispiel bald vierzig zu werden, keinen Mann und kein Kind zu haben, dafür aber Krebs, der einem die Brüste, die Leber und den Uterus zerfrisst.
    Aber Naoko schwebte in höheren Sphären.
    »Letztendlich ist mein Problem mit Passan das gleiche, das ich eigentlich schon immer mit Frankreich gehabt habe. Hier war ich doch nie etwas anderes als eine Jahrmarktsattraktion. Jeder, der erfährt, woher ich stamme, erklärt mir, wie gern er Sushi isst. Manche falten, wenn sie sich bedanken wollen, die Hände auf der Brust. Das tun aber nur die Thai. Andere wünschen mir im Februar ein gutes neues Jahr – wenn die Chinesen feiern. Ich habe es so satt!«
    Sandrine widmete sich dem Achterdeck des Schiffes. Es tat so gut, endlich wieder den Wohlgeschmack und das Jodaroma der Fische, die pikante Würze des Ingwers und die herbe Schwärze der Sojasoße kosten zu können. Sie schmeckten wie zärtliche Liebesbisse.
    »Wer mich dann besser kennt«, sagte Naoko leise und immer noch äußerst konzentriert, »der fragt mich, ob es stimmt, dass die Vagina von Japanerinnen enger ist.«
    »Und? Ist sie es?«
    »Als ich nach Frankreich kam«, fuhr Naoko fort, ohne auf die Frage einzugehen, »dachte ich …«
    »Du wolltest sicher Französin werden, oder?«
    »Nein. Ich wollte als Mensch akzeptiert werden, nicht als exotische Ausnahmeerscheinung mit einer XS-Vagina.«
    Sandrine bemühte sich mit vollem Mund, das Gespräch wieder in die ursprüngliche Bahn zu leiten.
    »Und was

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