Die Wahrheit des Blutes
an ihr vorbei aus dem Zimmer.
»Wir sehen uns beim Anwalt«, sagte er im Hinausgehen.
15
Naoko stand auf dem Rasen, die Augen unverwandt auf das Tor geheftet. Ihr war kalt.
Sie hatte Passan geholfen, die letzten Kartons hinauszutragen. Er war ohne ein Wort und ohne einen Blick davongefahren. Die Luft war kühl. Nur dann und wann wehte ein schwerer, feuchter, fast fieberwarmer Hauch über sie hinweg. Lediglich die Vögel schienen in ihrer Einschätzung der Jahreszeit unbeirrbar zu sein und zwitscherten unsichtbar und beinahe zornig irgendwo in den Bäumen.
Naoko schüttelte sich und ging zurück zum Haus. Vor Angst hatte sie einen dicken Kloß in der Kehle. Sie betrat das Zimmer der Kinder. Eigentlich waren zwei Zimmer für die beiden vorgesehen gewesen, doch Passan hatte nie die Zeit gefunden, sich darum zu kümmern. Naoko gab dem nach seinem Bad noch ganz zerzausten Hiroki und dem ausschließlich auf sein Nintendo konzentrierten Shinji einen Kuss. Die Kinder kümmerten sich nicht weiter um sie, und Naoko fand diese Gleichgültigkeit tröstlich. Es war ein Abend wie jeder andere.
Sie ging in die Küche. Die Seezungen und die Kartoffeln waren bereits fertig, doch sie verspürte keinen Hunger. Sandrines Makis lagen ihr noch im Magen. Die Unterhaltung mit der Freundin kam ihr in den Sinn. Warum hatte sie sich bloß derart über Frankreich im Allgemeinen und Paris im Besonderen aufgeregt? Eigentlich war sie doch schon seit langer Zeit immun gegen den Einwanderungsärger …
Lachend polterten die Jungs herein und setzten sich mit viel Getöse an den Tisch.
Shinji kam sofort zur Sache.
»Warum trennst du dich von Papa?«
Er saß sehr gerade auf seinem Stuhl, als stelle er die Frage vor der ganzen Klasse seiner Lehrerin. Naoko verstand, dass er als Ältester auch im Namen seines Bruders fragte.
Ihr fehlte die Kraft für eine Antwort auf Japanisch.
»Damit wir uns nicht immer streiten.«
»Und was wird mit uns?«
Sie legte ihnen vor und setzte sich dann zwischen sie, um ihren Worten mehr Wärme zu verleihen.
»Natürlich haben wir euch beide so lieb wie immer. Und wir haben euch ja auch schon erklärt, wie es hier weitergeht. Ihr bleibt hier im Haus. Eine Woche mit Mama, eine Woche mit Papa.«
»Dürfen wir Papa einmal in seiner neuen Wohnung besuchen?«, erkundigte sich Hiroki.
Sie fuhr ihm durch die Haare und lächelte.
»Aber natürlich. Ein bisschen ist es ja auch eure Wohnung. Und nun iss.«
Shinji und Hiroki beugten sich über ihre Teller. Die Kinder waren nicht etwa das Herzstück von Naokos Leben, sondern sie waren das Leben ihres Herzens. Jeder Schlag und sogar die Stille zwischen zwei Schlägen gehörte ausschließlich ihnen.
Shinji, der Achtjährige, war ein kleiner Clown. Er besaß die Energie und den Humor seines Vaters, aber auch eine natürliche Entspanntheit, die weder von Passan noch von Naoko stammte. Seine ethnische Mischung offenbarte sich in einer geheimnisvollen Ironie. Er trug seine asiatischen Gesichtszüge mit einer amüsierten Distanz und Fröhlichkeit, die zu sagen schien: »Vertraue nie dem Schein.«
Der sechsjährige Hiroki war deutlich ernster. Er ging streng mit seinen Gewohnheiten, Stundenplänen und seinem Spielzeug um und erwies sich darin als das Ebenbild seiner Mutter. Körperlich ähnelte er ihr weniger. Sein schwarzes Haar bedeckte einen kugelrunden Kopf, der Naoko irritierte. Japaner sind stolz auf ihr ovales Gesicht, das sie von Chinesen und Koreanern unterscheidet. Über Hirokis kleines Mondgesicht schwebte häufig eine träumerische Zerstreutheit. Oft stolperte der Junge in Gespräche hinein wie jemand, der sich in der Tür geirrt hat. Er verkündete etwas, das nichts mit dem Thema zu tun hatte, wunderte sich und verstummte. Er schien auf einem anderen Planeten zu leben, was ihn aber nur noch sympathischer machte.
Das Abendessen war beendet. Naoko hatte es geschafft, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. Sie sprachen über alles Mögliche: die Schule, Diego, Shinjis Judokurs und das neue Nintendospiel für Hiroki. Ohne dass Naoko es ihnen sagen musste, räumten die Jungen ihr Geschirr in die Spülmaschine und flitzten in den ersten Stock hinauf.
Nachdem sie Hiroki einen Gutenachtkuss gegeben hatte, flüsterte Naoko ihm auf Japanisch zu:
»Morgen komme ich früher nach Hause, und dann baden wir zusammen. Wir waschen uns nach Art der Kokeshi.«
Bei der Erwähnung der japanischen Puppen lächelte der kleine Junge. Er war bereits halb eingeschlafen. In
Weitere Kostenlose Bücher