Die Wahrheit des Blutes
siebzig Jahren in seinem kleinen Büro ganz einfach den Gashahn auf, als hätte er auf diese Weise eine vor Jahren begonnene Arbeit beenden wollen.
Vorsichtig verstaute Passan seine in Seidenpapier verpackte Seladon-Teekanne im Karton. Die Sache mit der Dienstaufsicht war glimpflich abgelaufen. Die Jungs hatten sich einigermaßen verständnisvoll gezeigt. »Es handelt sich allerdings lediglich um ein erstes Gespräch«, hatten sie ihn vorgewarnt. Ob sie ihm so den Weg für ein berufliches Harakiri ebnen wollten?
Der Freitod. Eine der Grundlagen japanischer Kultur, eine Obsession von Passan und ein immer wiederkehrendes Streitthema mit Naoko.
Sie weigerte sich zuzugeben, dass das freiwillige Scheiden aus dem Leben zu ihrer Kultur gehörte, und berief sich – übrigens zu Recht – darauf, dass die Selbstmordrate in Japan nicht höher liege als anderswo. Im Gegenzug zählte Passan berühmte Japaner auf, die ihrem Leben ein Ende gesetzt hatten. Die Schriftsteller Kitamoro Tokotu, Akutagawa Ryonosuke und Ozamu Dazai, die Generäle Maresuke Nogi, Anami Korechika und Sugiyama Hajime, die Verschwörer Yui Shosetsu und Asahi Heigo, die Krieger Minamoto no Yorimase und Asano Naganori samt seinen siebenundvierzig Samurai sowie Saig Takamori. Ganz zu schweigen von den Kamikazefliegern, die ihre Flugzeuge gezielt auf amerikanischen Kreuzern zerschellen ließen, oder den Paaren, die sich lieber von den Felsen von Tojimbo stürzten, als ihre Liebe schwinden zu sehen – eine Vorstellung, die sich vor allem angesichts des eigenen Verfalls aufdrängte.
Passan bewunderte Menschen, die den eigenen Tod nicht fürchteten. Es waren Männer, denen Pflicht und Ehre alles bedeutete und für die die Lebensfreude der glücklichen kleinen Leute nicht zählte. Naoko konnte diese morbide Bewunderung nicht ertragen. Für sie war es nur eine andere Weise, ihr Volk wieder einmal zu stigmatisieren. Immer wieder die alte Leier von der tragischen Kultur, die sich zwischen sexueller Perversion und Freitod bewegte – Klischees, die sie außer sich bringen konnten.
Passan hatte die Diskussion darüber längst aufgegeben. Er zog es vor, seine eigene Theorie zu verfeinern. Für einen Japaner ist seine Existenz vergleichbar mit einem zarten Seidenfragment. Nicht die Menge zählt, sondern die Qualität. Es spielt keine Rolle, ob man mit zwanzig, dreißig oder siebzig Jahren stirbt – wichtig ist nur, dass die Seide ohne Fleck und ohne Riss bleibt. Ein Japaner, der den Freitod wählt, blickt nicht in die Zukunft, denn er glaubt an kein Jenseits. Er blickt zurück. Er schätzt sein Schicksal im Licht einer höheren Sache ein: Shogun, Kaiser, Familie oder Unternehmen. Aus dieser Demut und dem Sinn für Ehre besteht das Gewebe des Seidenstoffs. Man darf darauf weder Schmutz noch Makel erkennen.
Passan zog den Stecker des Wasserkochers heraus und packte das Gerät neben die Teekanne. Er selbst hatte immer nach diesen Vorgaben gelebt. Wenn er je über die Zukunft nachdachte, dann nur, um sich seinen eigenen Grabstein vorzustellen. Würde er die Erinnerung an ein exemplarisches Leben hinterlassen? Würde sein Stück Stoff makellos rein bleiben?
Nein, es war längst missglückt. Er brauchte nur an die beruflichen Winkelzüge, Lügen und Schweinereien zu denken, die er sich im Lauf seines Lebens einfallen lassen musste, um einfach nur den Gesetzen Genüge zu tun. Hinsichtlich Mut und Ehre allerdings hatte er sich nichts vorzuwerfen. Während seiner Zeit beim taktischen Interventionsteam hatte er mit dem Feuer gespielt. Seine Waffe benutzt. Getötet. Er hatte mit dem Geruch von Propergol und heißem Stahl gelebt. Er hatte das Pfeifen von Kugeln erlebt, den Luftzug, mit dem sie vorbeisausten, und den darauffolgenden Adrenalinstoß. Er hatte Angst gehabt, wirkliche Angst, doch er war nie zurückgewichen. Und dafür gab es nur einen einzigen Grund: Die Gefahr zählte nichts im Vergleich zu der Schande, die im Fall des Versagens sein Leben besudelt hätte.
Tatsächlich fürchtete Passan weniger den Tod als das Leben. Sein unvollkommenes, mit Gewissensbissen und Erniedrigung belastetes Leben.
Er nahm ein Bild der Kinder von der Wand und betrachtete es eine Weile. Seit der Geburt von Shinji und Hiroki hatte sich alles verändert. Seither wollte er gerne weiterleben. Er freute sich darauf, sie alles zu lehren, was er wusste, und sie so lange wie möglich zu behüten. Konnte man ein guter Soldat sein, wenn man Kinder hatte?
»Was machst du da?«
Passan
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