Die Wahrheit des Blutes
und herlaufen, um seine Kisten in die Wohnung zu bringen. Nachdem er den letzten Karton mitten im Zimmer abgestellt hatte, betrachtete er seine neue Unterkunft genauer. Dreißig Quadratmeter, Laminatboden, drei weiß gestrichene Wände, eine Fensterwand und eine hinter einem furnierten Tresen verborgene Küche. Anstelle von Möbeln gab es ein Schlafsofa, ein auf zwei Böcke gelegtes Brett, einen Stuhl und einen Fernseher. Das Ganze in einem Haus aus den 1960ern. Nichts, das zu Begeisterungsstürmen verlockte.
Seit Wochen schon zog Passan nach und nach um. Er hatte den Augenblick der endgültigen Trennung bewusst hinausgezögert. Jetzt legte er seine Jacke ab und blieb ein paar Minuten unbeweglich stehen. Mit einem Mal kam ihm die Aussage eines Kamikazepiloten in den Sinn, den der Waffenstillstand gerettet hatte. Als man ihn zu seiner Haltung befragte, hatte er mit zerstreutem Lächeln geantwortet: »Ganz einfach: Wir hatten keine andere Wahl.«
Passan ging als Erstes unter die Dusche und blieb dort eine halbe Stunde, so als hoffe er, damit den Schmutz dieses Abends abzuwaschen. Allerdings räumte er da wohl dem Stadtwasser eine zu große Leistungsfähigkeit ein.
Anschließend streifte er sich einen Slip und ein T-Shirt über, kochte einen Liter Kaffee, heizte die in einem japanischen Feinkostgeschäft erstandenen Bento in der Mikrowelle auf und aß im Stehen die Hühnerspieße, die Käsekugeln und den Reis. Es erinnerte ihn an die Zeit seines Jurastudiums: Vorlesungen, danach Gerichte zum Mitnehmen und Einsamkeit.
Kauend widmete er sich den wenigen Informationsfetzen, die er am späten Nachmittag über die Ermittlungen in Stains in Erfahrung gebracht hatte. Stéphane Rudel, der obduzierende Gerichtsmediziner, hatte bestätigt, dass die Vorgehensweise den anderen Morden entsprach. Die Instrumente, die man im Lagerhaus gefunden hatte, passten auch zu den Verletzungen der früheren Opfer. Passan war neugierig, wie Guillard die Anwesenheit medizinischer Geräte in seiner Mechanikerwerkstatt erklären würde. Auf alles Weitere würde man noch warten müssen. Die toxikologische Analyse war in Arbeit.
Auch Isabelle Zacchary von der Koordinationsstelle der Spurensicherung hatte ihn angerufen. Die Ergebnisse waren gleich null. Man hatte weder Fasern noch Abdrücke gefunden, die einen Zusammenhang zwischen der DNA Guillards und der des Opfers bestätigen konnten. Es schien, als hätte er die Frau nie berührt.
Passan warf die Überreste seiner Mahlzeit in den Müll und blickte auf die Uhr. Fast Mitternacht, doch er war nicht müde. Er stellte die Kaffeekanne, eine Tasse und einen Becher Joghurt neben das Sofa, kauerte sich im Schneidersitz auf den Boden, lehnte sich an die Couch und nahm den ersten Karton mit Archivmaterial in Angriff.
Zum x-ten Mal vertiefte er sich in die Dokumente. Eine halbe Stunde später stellte er fest, dass die Zeilen zu verschwimmen begannen. Er trank einen Schluck Kaffee und schloss die Augen. Rötliche, violett begrenzte Kreise tanzten unter seinen Lidern.
Seine Gedanken wanderten zu der Geschichte seiner Ermittlung zurück.
17
3. April 2011. Die Leiche von Karina Bernard, einunddreißig Jahre alt und im achten Monat schwanger, war ebenso wie die tote Audrey Seurat mitten in einer Wohnsiedlung des Departements 9–3 abgelegt worden. Das Viertel hieß Les Francs-Moisins und lag in Saint-Denis. Die Siedlung galt als sozialer Brennpunkt und war eine der gefährlicheren Gegenden der Stadt.
Passan und sein Team hatten sich sofort an die Arbeit gemacht. Das Szenario entsprach genau dem des ersten Falls. Gleiches Opferprofil und gleiche Vorgehensweise, einschließlich des Funkausfalls wenige Stunden vor dem makaberen Fund. Und wieder keine Anzeichen von Indizien oder Spuren.
Dennoch gab es eine neue Erkenntnis: Anhand von Glaskörperflüssigkeit, die man den Augen der in diesem Fall weniger stark verkohlten Babyleiche entnehmen konnte, wiesen die Toxikologen Spuren von Kaliumchlorid nach. Der Fetus hatte also die gleiche Injektion erhalten wie seine Mutter und war wenigstens nicht bei lebendigem Leib verbrannt. Im Blut der beiden Toten hatte man außerdem ein Anästhetikum gefunden. Wollte der Mörder seine Opfer nicht leiden lassen?
Die Ermittlungen wurden durch ein neu hinzugekommenes Problem deutlich erschwert. Dieses Mal hatten die Medien Wind von der Sache bekommen. Und schon hatten sie ihre Story. Ein Serienmörder! Ein Mörder, der schwangere Frauen tötete! Schnell waren prägnante
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