Die Wahrheit des Blutes
blickte auf. Im Halbdunkel stand Naoko. Sie trug noch ihren Regenmantel und hatte ihre Handtasche nicht abgelegt. Er hatte sie nicht kommen hören. Nie hörte er sie kommen. Naoko mit ihrem Federgewicht und den Katzenaugen, die auch im Dunkel sahen.
»Ich packe ein paar Sachen ein, um sie ins Appartement mitzunehmen.«
Sie betrachtete die Porträts im Karton, die über anderen »Schätzen« lagen: kalligrafierte Haikus, Räucherstäbchen, Reproduktionen von Hiroshige und Utamaro.
»Du und deine Leidenschaft für Zombies!«, stellte sie trocken fest.
»Sie waren mutige Ehrenmänner.«
»Du hast mein Land nie wirklich verstanden.«
»Wie kannst du das nach all den Jahren behaupten?«
»Wie kannst du allen Ernstes noch an diesen Blödsinn glauben, nachdem wir zehn Jahre zusammengelebt haben und so oft in Japan waren?«
»Ich verstehe nicht, wo da ein Widerspruch sein soll.«
»Das, was du ›Mut‹ nennst, ist allenfalls eine Art Infiltration. Man hat uns programmiert. Wir wurden durch unsere Erziehung formatiert. Wir sind nicht mutig, wir sind gefügig.«
»Ich glaube, du bist es, die nichts begriffen hat. Die Erziehung beruht schließlich auf den Idealen eines Volkes.«
»Heutzutage ist es unser Ideal, uns von diesem Zeug zu befreien. Und schau mich nicht an, als wäre ich krank im Kopf.«
»Ich kenne deine Krankheit. Sie heißt ›westliche Dekadenz‹. Überspannter Individualismus. Verlust von Glaube, Ideologie und …«
Sie blockte die Tirade mit einer Handbewegung ab, als wische sie einen Staubfaden fort.
»Wir werden uns doch wohl jetzt nicht streiten.«
»Was willst du überhaupt? Dich von mir verabschieden?«, fragte er sarkastisch.
»Ich wollte dich nur daran erinnern, dass die Kinder nichts Süßes essen sollen. Es schadet ihren Zähnen, darüber waren wir uns doch immer einig.«
Passan brauchte eine Sekunde, um den Hinweis zu verstehen. Er sprach von Harakiri, ihr dagegen ging es um die Chupa Chups. Naokos Materialismus und ihr irrationales Festhalten an alltäglichen Kleinigkeiten verblüfften ihn noch immer. Eines Tages hatte er sie gefragt, welche Tugend sie an einem Mann am meisten schätzte. Ihre Antwort war: »Pünktlichkeit.«
»Okay. Aber zwei Lutscher werfen sicher nicht gleich ihre gesamte Erziehung über den Haufen, oder?«
»Ich bin es leid, mich ständig wiederholen zu müssen.«
Passan bückte sich und hob seinen Karton auf.
»War das alles?«
»Nein. Ich wollte dir außerdem das hier zurückgeben«, erklärte sie und legte etwas auf den Stapel Fotos.
Es war ein Dolch mit einem Klingenschutz aus schwarzem Jackfruchtbaumholz. Sein Elfenbeingriff schimmerte makellos im Schein der Lampe. Die Wölbung des lackierten Holzes war geradezu perfekt. Passan erinnerte sich, warum er gerade diesen Dolch ausgesucht hatte: Das Holzfutteral erinnerte ihn an Naokos Haar, das Elfenbein an ihre weiße Haut.
»Behalt ihn. Es ist ein Geschenk.«
»Über diesen Punkt sind wir längst hinaus, Olive. Pack das Ding ein.«
Die hässlichen Worte verursachten ihm einen Schauder.
»Es ist ein Geschenk«, wiederholte er trotzig. »Geschenke nimmt man nicht zurück.«
»Du weißt, was das ist, oder?«
Der Dolch lag schräg auf den unbeweglichen Gesichtern von Kawabata, Mishima und Kurosawa und schien mit ihnen die Klinge zu kreuzen. Herrlich.
»Ein Kaiken«, murmelte er.
»Weißt du, wozu er gebraucht wird?«
»Ich habe es dir selbst gesagt. Du hattest keine Ahnung.«
Verträumt betrachtete er die wertvolle Waffe.
»Mit dieser Art Dolch haben die Frauen der Samurai rituellen Selbstmord begangen. Sie schlitzten sich die Kehle auf, banden sich aber zuvor die Beine zusammen, um in einer schicklichen Haltung zu sterben, und …«
»Willst du, dass ich mich umbringe?«
»Du musst immer alles verderben«, antwortete er mit müder Stimme. »Du lehnst deine eigene Kultur ab. Den Ehrenkodex. Den …«
»Du bist doch krank. Diesen ganzen Mist gibt es doch schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Zum Glück!«
Der Karton schien mit jeder Sekunde schwerer zu werden – die Bürde seines vergangenen Lebens, das Gewicht seines überholten Glaubens.
»Und was symbolisiert deiner Ansicht nach das heutige Japan?«, brüllte er Naoko plötzlich an. »Sony, Nintendo und Hello Kitty?«
Naoko lächelte. Passan verstand plötzlich, dass trotz des Kaiken im Karton und seiner 45er im Gürtel sie als Einzige in diesem Raum bewaffnet war.
»Es ist wirklich höchste Zeit, dass du verschwindest.«
Passan ging
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