Die Wahrheit des Blutes
nicht beunruhigen.«
Naoko ging ein paar Schritte über den Rasen, der im Rhythmus des Blaulichts sichtbar wurde und wieder verschwand. Die gesamte Umgebung wirkte bizarr. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und unterdrückte ihre Tränen.
»Du hast mir immer alles vorenthalten und machst jetzt genauso weiter. Scheiß Polizeiarbeit.«
»Doch nur, um dich zu schützen.«
Ihr Schluchzen wurde zu einem kurzen Auflachen.
»Na, das ist dir ja wirklich geglückt.«
»Ich habe keine Ahnung, was dieser Mist hier bedeuten soll. Auf jeden Fall muss ich hierher zurückkommen.«
Naoko fuhr zurück, als hätte sie eine Schlange berührt.
»Auf gar keinen Fall.«
»Nur so lang, bis wir das Ding hier geregelt haben.«
»Wie schon gesagt: auf keinen Fall! Wir fangen nicht noch einmal von vorn an.«
»Dann nimm die Kinder und zieh aus.«
»Bestimmt nicht. Du machst es dir ganz schön einfach.«
Passan schüttelte den Kopf, doch im Grunde freute er sich über ihre Entschlossenheit. Sie waren wirklich vom gleichen Schrot und Korn.
»Okay, dann lass mich meine Zeit vorziehen.«
»Was meinst du?«
»Wir wechseln uns schon morgen ab, und ich bleibe für den Rest der Woche da.«
Naoko biss sich auf die Unterlippe.
»Und was sollen wir den Kindern sagen?«
»Da wird uns schon etwas einfallen. Wichtig ist, dass ich hier bin und reagieren kann, falls es wieder ein Problem gibt.«
Naoko gab keine Antwort, doch ihr Schweigen war eine Zustimmung.
Plötzlich hob sie den Kopf und sagte:
»Da ist ja Sandrine.«
27
Vorsichtig fuhr sie über den verwaisten Boulevard Périphérique. Die beiden Kinder saßen auf der Rückbank. Hiroki war schon wieder eingeschlafen, Shinji starrte mit weit geöffneten Augen in die Nacht. Lichtreflexe strichen über sein Gesicht wie stumme Gespenster. Sandrine beobachtete die Kinder im Rückspiegel, ohne die Augen von der Straße zu wenden.
Zwei blasse Gesichter, zwei schwarze seidige Haarkappen. In den Kindern fand sie Naokos geheimnisvolle Schönheit wieder. Eine Reinheit, die auf dieser Seite der Erdkugel unbekannt war. Welchem Gen entstammte sie? Was war ihre Quelle? Wie war sie entstanden? Sandrines Gedanken schweiften ab. Wie Shinji fühlte sie sich hypnotisiert in dieser von Lichtern punktierten Nacht, deren Reflexe ihr gleichzeitig verschwommen und ungeheuer klar erschienen.
Sandrine dachte nicht an das mit Entsetzen gemischte Phlegma von Naoko und Olive. Auch nicht an die Polizisten, die überall in der Villa herumliefen. Sie stellte lediglich fest, dass wieder einmal ein Anruf genügt hatte, um sie dazu zu bringen, sich hastig anzuziehen, in ihren Twingo zu springen und quer durch Paris nach Suresnes zu fahren. Innerhalb einer knappen halben Stunde stand sie Gewehr bei Fuß, bot ihre Hilfe an, holte die Kinder ab und überließ ihre Schulter jedem, der sich daran ausweinen wollte.
In der Hektik allerdings hatte niemand sie bemerkt. Fast zehn Minuten stand sie auf dem Rasen und beobachtete das Paar, das sich gerade seine große Szene lieferte.
Ein gehäuteter Affenkadaver im Kühlschrank. Ein Eindringling im Haus. Eine kaum verhüllte Todesbotschaft. Klar, da konnte man durchaus in Panik geraten. Aber hatte vielleicht irgendwer danach gefragt, wie es ihr selbst ging? Ob es weitere Metastasen gab? Ob die Anzahl ihrer Thrombozyten im freien Fall war?
Natürlich hatte sich niemand erkundigt. Weil niemand Bescheid wusste.
Beim Ausbruch der Krankheit war sie der Überzeugung gewesen, dass es ihr gelingen würde, nicht darüber zu reden. Irgendwann jedoch wurde ihr klar, dass der Egoismus und die Gleichgültigkeit der anderen sie zur Diskretion verurteilten. Hätten sie es jedoch gewusst und sie aus diesem Grund nicht gerufen, wäre das ihr Ende gewesen …
Die erste Geschwulst unter ihrer linken Brust war im Februar während einer Routineuntersuchung beim Betriebsarzt entdeckt worden. Damals war ihr der Ernst der Lage noch gar nicht richtig bewusst geworden. Spätere Untersuchungen ergaben Metastasenbildung in der Leber und in der Gebärmutter. Noch immer begriff sie nicht wirklich. Sie fühlte sich nicht krank. Erst bei der ersten Chemo wurde ihr klar, was mit ihr geschah. Das Wort »Chemotherapie« ist ein Alarmsignal, das jeder versteht. Und doch erkannte man ihre Krebserkrankung ausschließlich an der Art der Behandlung. Sicher würde sie gesund werden, ehe sich andere Anzeichen zeigten.
Alles hatte sich jedoch verändert, als die Nebenwirkungen eintraten. Man hatte sie
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