Die Wahrheit des Blutes
gewarnt, dass sie sehr müde werden würde. Doch »müde« war nicht das richtige Wort. Unter dem Einfluss des Medikaments hatte sie sich buchstäblich aufgelöst. Wie in einem Albtraum war sie zusammengeschmolzen, hatte sich in eine Art stumpfsinnige Pfütze verwandelt.
Dann begann das Erbrechen. Seit vier Monaten stopfte sie sich bei der geringsten Übelkeit mit Primperan und Vogalene voll. Nach Angaben der Ärzte zog das wiederum weitere Übelkeit nach sich. Und so weiter. Wenn man die Hitzewallungen dazurechnete, hätte man glauben können, sie wäre schwanger.
Schwanger mit dem Tod.
Danach folgten die von den Ärzten dezent als »Verdauungsprobleme« bezeichneten Schwierigkeiten. Sandrine hatte keine Ahnung, ob es eine Folge des Krebses, der Chemo oder der Medikamente war, doch ihre Verdauung geriet völlig durcheinander. Manchmal kam sie kaum schnell genug zur Toilette, manchmal mühte sie sich entsetzlich ab.
Weitere Unannehmlichkeiten tauchten auf. Sandrine ertrug keine Kälte mehr. Es ging so weit, dass sie Handschuhe tragen musste, wenn sie Lebensmittel aus dem Kühlschrank nahm. Sie verlor ihren Geschmackssinn. Jedenfalls war es so, dass sie essen konnte, was sie wollte – es schmeckte immer irgendwie metallisch. Die Ärzte hatten versucht, ihr das Phänomen zu erklären. Es handelte sich um eine bestimmte Art von Schleimhautentzündung, teils im Mund, teils im Verdauungsapparat, aber auch in der Vaginalschleimhaut. Hätte sie noch Verkehr gehabt, hätte sie jetzt keine Lust mehr verspürt.
Manchmal gab es aber auch Situationen, wo die Sinneseindrücke sie mit aller Macht überrollten. Dann geriet ihr Geruchssinn aus dem Gleichgewicht und wurde beängstigend scharf. Zu solchen Zeiten war sie in der Lage, die einzige Zigarettenkippe in einem ganzen Müllbehälter oder das Parfüm der Kollegin im Nebenzimmer zu riechen. Sie betätigte die Wasserspülung fünfmal hintereinander, weil sie den Geruch ihres Urins nicht ertrug. Ihr eigener Schweiß machte sie geradezu verrückt und führte wiederum zu Übelkeit.
Rechts tauchte die Porte du Pré-Saint-Gervais auf. Sandrine riss sich aus ihren finsteren Gedanken los und bog ab. Noch wenige Ampeln, dann erreichte sie das Viertel, in dem sie wohnte. Die Avenue Faidherbe mit ihren Lichtern. Der kleine hässliche Wohnblock. Fünf Stockwerke Tristesse. Resopal und Arbeitslosenunterstützung. Kein Zweifel: Sie war zu Hause.
Sie parkte, öffnete die hinteren Türen und weckte die beiden kleinen Jungen mit sanfter Stimme.
»Kommt, meine Süßen. Wir sind da.«
Sie nahm Hiroki auf den Arm und lehnte seinen Kopf gegen ihre Schulter. Der Kopf des Jungen war überraschend schwer, seine Beine schlangen sich reflexartig um ihre Taille. Sandrine schloss den Wagen ab. Shinji tappte mit schwankenden, fast mechanisch wirkenden Schritten voraus – halb Fährtensucher, halb Mondsüchtiger.
Sie tippte ihren Code ein. Das Licht im Flur ging an, der Aufzug kam. Nur noch ein paar Sekunden, dann würden die Jungs in ihrem Zimmer liegen und schlafen. Sie selbst würde sich mit dem Schlafsofa im Wohnzimmer begnügen. Die Kinder kannten sich hier gut aus, denn sie hatten schon oft bei Sandrine übernachtet. Wie alle unverheirateten Frauen spielte Sandrine gern die Mama auf Zeit. Sie war nicht hässlich. Was war da schiefgelaufen? Warum hatte sie jede Haltestelle ihres Lebens verfehlt? Und die Endstation näherte sich bereits, obwohl in ihrem Leben nichts oder fast nichts passiert war.
Mit einem Griff riss sie sich die Perücke vom Kopf und musste lachen, als sie ihren kahlen, spitzen Schädel im Spiegel sah.
TEIL 2:
KAMPF
28
Zehn Uhr früh. Boulevard Périphérique, Porte Maillot.
Passan saß am Steuer seines Subaru und schlängelte sich mit jaulender Sirene zwischen den Autos hindurch. Erst eine Stunde zuvor war er aus einem grässlichen Albtraum aufgeschreckt. Ein gehäuteter Fetus kam aus Naokos Bauch. Sie lächelte ihn an und flüsterte ihm japanische Worte zu.
Passan hatte eine ganze Weile gebraucht, ehe er sich zurechtfand. Dusche. Kaffee. Anzug. Muskelkater peinigte ihn in allen Gliedern. Er fühlte sich so müde, dass ihm fast schlecht war. Und dann die Angst.
In der Freud’schen Traumdeutung heißt es, dass auch ein Albtraum die Erfüllung eines verdrängten Wunsches ist. Passan hielt den Österreicher zwar für ein Genie, aber manchmal übertrieb er ja doch. Die blutigen Fetzen, glänzenden Muskeln und riesigen Augen, die Naoko in seinem Traum zwischen ihren
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