Die Wahrheit des Blutes
spürte er das Gewicht seiner Jacke auf seinen verschwitzten Schultern und fragte sich, ob er nicht allmählich über das Alter für solche Dummheiten hinaus war. Andererseits fand er, dass er seine Rolle als brutaler Bulle noch immer recht überzeugend rüberbringen konnte. In seinem Metier war das eine Art Versicherung für die Zukunft.
Kurz nach sechs. Die zweite Runde begann.
25
»It’s quarter to three, there’s no one in the place
Except you and me …
Make it one for my baby
And one more for the road …«
Naoko hatte die spanische DVD im Internet als einzig verfügbare Version von The Sky’s the Limit gefunden – einem recht unbekannten Film mit Fred Astaire aus dem Jahr 1943. So wie ihre Mutter Godard, Truffaut und Resnais liebte, war Naoko ein Fan von klassischem Ballett und Stepptanz. Passan wäre es lieber gewesen, wenn sie sich für die Filme von Mizoguchi und Kabuki-Theater begeistert hätte. Andere Leute nahmen an, sie vergöttere die japanischen Idole oder vielleicht die moderne Tanzform des Butoh. Aber nein, ihr Geschmack war westlich geprägt – und altmodisch. Ballett war ihr Ein und Alles. Gisèle. Coppelia. Schwanensee. Die Namen aller großen Tänzerinnen und Choreografen kannte sie auswendig. Während ihrer gesamten Jugendzeit in Tokio hatte ihr Herz für den Pas de Deux geschlagen, und sie hatte sich geschworen, wenigstens einmal im Leben die für sie geradezu mythischen Orte Opéra Garnier und Bolschoitheater aufzusuchen.
Vor allen Dingen aber liebte sie amerikanische Musicals aus den 1930er- bis 1950er-Jahren. Sehr gern sah sie sich auch Filme von Stanley Donen mit Audrey Hepburn an – zum Beispiel West Side Story oder The Sound of Music . Alles andere interessierte sie nicht.
Es war zehn Uhr. Naoko fühlte sich richtig wohl. Die Kinder schliefen. Sie hatte ein heißes Bad genommen und war noch immer von dieser wohltuenden Wärme erfüllt. Endlich konnte sie sich entspannen!
Sie saß im Bett, hatte ein Holztablett mit Spargelsuppe und geröstetem grünen Tee auf ihre rote Decke gestellt und aß und trank genüsslich, ohne die Augen vom Bildschirm zu wenden.
Im Lauf des Tages war ihr Zorn abgeflaut. Trotzdem tröstete sie die Vorstellung, dass sich Passans Schlüssel in ihrer Handtasche befanden. So konnte er sich wenigstens nicht mehr in ihr Leben einmischen.
Plötzlich griff sie nach der Fernbedienung und hielt den Film an. Sie hatte ein seltsames Poltern gehört, das nicht zu den üblichen Geräuschen der Villa passte. Sofort dachte sie an Diego. Wo steckte der Hund?
Naoko lauschte. Alles war wieder ruhig. Sie musste an die Innereien des Hauses denken. Kanalisationsrohre, Kabel, Lüftungsschächte. Der Architekt hatte alle Systeme in Hohlräumen in den Mauern untergebracht. Nirgends waren Blenden oder Drähte zu sehen, was Naoko nicht unbedingt gefiel. Es war, als besäße dieses Haus eine Art verstecktes Eigenleben.
Sie stand auf und bewegte sich leise und wachsam auf die Tür zu. Im Flur herrschte tiefe Stille. Sie wagte sich einige Schritte in die Dunkelheit vor, ohne Licht zu machen. Immer noch absolute Ruhe. Naokos nackte Füße waren eiskalt.
Als Erstes ging sie zu den Kindern hinauf. Beide schliefen friedlich im gestirnten Halbdunkel des Nachtlichts.
Was genau hatte sie eigentlich gehört? Schläge? Schritte? Jemand schien im Haus zu sein.
Sie warf einen prüfenden Blick in die Wandschränke und kehrte in den Flur zurück, wo sie einen Aufschrei unterdrücken musste. Wie aus dem Nichts stand Diego vor ihr und hechelte. Naoko lachte auf. Am liebsten hätte sie den Hund umarmt. Das Tier schien absolut entspannt zu sein. Mit Diego auf den Fersen lief sie die Treppe hinunter. Lackierte Betonböden, Vorhangwände, so gut wie keine Möbel. Mit ihren klaren Linien erinnerte die Villa an traditionelle japanische Häuser, allerdings in einer schwereren und solideren Bauweise, die kein Erdbeben zu fürchten brauchte.
Naoko ging durch Wohn- und Esszimmer. Hier war alles wie immer. Sie wandte sich dem Untergeschoss zu. Passans Höhle. Ein Unbehagen erfüllte sie, so als hätte ihr Ex eine Art Groll hinterlassen. Hastig stieg sie wieder ins Erdgeschoss hinauf und ging in die Küche. Obwohl Diego bei ihr war, schaffte sie es nicht, ihre Ängste abzuschütteln.
Im Dunkeln lehnte sie sich an die Arbeitsfläche und atmete tief durch. Der Kühlschrank. Ihr war nach einem kühlen, süßen Fruchtsaft. Und dann ab ins Bett. Noch mit der Hand auf dem Griff entdeckte sie
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