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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Kaltwasserhahn der Dusche auf und kauerte sich komplett bekleidet unter den Strahl. Auf dem Boden der Duschkabine zusammengerollt wartete er darauf, dass das eisige Wasser sein Fieber besänftigte.
    Die Minuten vergingen unendlich langsam. Schließlich entkleidete er sich unter dem Duschstrahl. Noch immer hatte er beim Ausziehen das Gefühl, sich Pflaster abzureißen.
    Dann trocknete er sich ab, nahm einen weißen Bademantel aus seinem Schrank, zog ihn über und kehrte zurück in sein Büro.
    Nachdem er die Jalousien heruntergelassen hatte, knipste er ein Nachtlicht an und entzündete Räucherstäbchen. Er war überzeugt, dass ihr herber Geruch die Luft reinigte. Seiner Meinung nach absorbierte der Rauch die schädlichen Zellen und aggressiven Moleküle, die ihn in eine männliche und eine weibliche Seite spalteten.
    Bewusst langsam setzte er sich an seinen Schreibtisch. Er fühlte sich als Priester seiner eigenen Religion. Dann öffnete er die Akte. Da wären wir also …
    Bis zu seiner Volljährigkeit hatte er warten müssen, um seine medizinische Akte einsehen zu dürfen. Es war ein Schock gewesen – allerdings ein heilsamer.
    Die Exaktheit der wissenschaftlichen Bezeichnungen hatte ihm gutgetan. Er, der in vollkommener Ungewissheit aufgewachsen war, liebte Namen, die direkt aus einem medizinischen Wörterbuch stammten, ihn wie eine Panzerung umgaben und ihm eine Lebensgrundlage und eine Identität boten. Sein persönliches Ruhmesblatt.
    Im Jahr 1971 war bei ihm Kryptorchismus diagnostiziert worden, worauf 1974 eine Genitoplastik folgte. 1984 stellte man einen weiblichen Karyotyp fest. 1985 erfolgte die nächste Genitoplastik, 1986 begann man mit der Hormonersatztherapie. Mehrere wissenschaftliche Artikel hatten sich mit seiner Fehlbildung beschäftigt. Er galt als Schulbeispiel eines echten Hermaphroditen, der auf kein Geschlecht wirklich festgelegt war. Man sprach von »ovotestikulärer Störung der Geschlechtsentwicklung«. Er selbst sah sich als Hybridwesen an. Der Ausdruck gefiel ihm, weil er ihn an die Hebriden im Westen Schottlands oder die Neuen Hebriden im Südpazifik erinnerte. Er empfand sich als Bewohner eines unbekannten Kontinents oder als Elbenwesen aus Mittelerde – in Anlehnung an die Welt des Herrn der Ringe .
    Guillard klappte den Ordner zu und widmete sich einer anderen Akte. Hier hatte er Polizeiberichte und Zeitungsausschnitte gesammelt, in denen es nicht mehr um medizinische Besonderheiten, sondern um die Rubrik »Vermischtes« ging.
    1988. In einer kleinen Kneipe in Saint-Gely-du-Fesc nahe Montpellier beschimpft ihn ein Betrunkener als »Schwuchtel« oder »Warmer Bruder«. An den genauen Ausdruck kann er sich nicht erinnern. Er stürzt sich auf den Kerl und zertrümmert eine Bierflasche auf seinem Gesicht. Man überwältigt ihn, als er das zweite Auge seines Opfers mit den Scherben bearbeitet.
    Während seines Aufenthalts in La Colombière, der psychiatrischen Klinik von Montpellier, macht er sich einige Erkenntnisse zu eigen. Erstens: Er muss bei den Anabolika kürzertreten. Zweitens: Seine Geschlechtsumwandlung ist nicht vollständig. Er hat sich den Kopf rasiert, seine Muskeln trainiert und seine Stimmlage verändert. Durch das Testosteron sind seine Finger dicker und seine Kieferknochen breiter geworden. Aber die Weiblichkeit ist ihm noch immer anzusehen, als scheine sie durch seine Haut. Sogar ein Säufer konnte die feminine Seite auf dem Grund seines Wesens erkennen. Drittens: Er liebt die Gewalt. Sie ist die einzige Regung, die ihn beruhigt.
    Er begreift, dass er in dieser feindlichen Umgebung vorsichtig sein muss. Er muss die Welt täuschen. Seine Begierden vertuschen. Und versuchen, Profit aus seiner Andersartigkeit zu ziehen. Er braucht nur seine Krankenakte zu zeigen, um sein Umfeld zu besänftigen. Richter zeigen sich gnädig, Pfleger und Ärzte reagieren verständnisvoll.
    Entgegen üblicher Annahmen scheint es tatsächlich mitleidige Anwandlungen gegenüber Monstern zu geben.
    Nach der Entlassung aus La Colombière landet er in einer Sackgasse. Sein Abitur will er nicht machen, weil er nicht vorhat, in einem Büro zu versauern. Eine Ausbildung in einem technischen Beruf ist auch nichts für ihn, denn er möchte sich nicht versklaven lassen. Sein Betreuer vom Pflege- und Erziehungsdienst erfährt, dass er es meisterhaft versteht, Mofas zu frisieren oder ein kaputtes Auto wieder fahrtüchtig zu machen. Dem Mann gelingt es, seinen Schützling als Lehrling in einer Werkstatt

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