Die Wahrheit des Blutes
längst erwartet hatte, wurde endlich gefällt. Unrecht Gut gedeihet nicht.
»Hallo!«
Sandrine kam näher und fuchtelte nervös mit den Händen. Sie wurde von Tag zu Tag nachlässiger. Zu einer indischen Tunika trug sie eine viel zu weite Jeans mit einem breiten Umschlag. Ihre Haut wirkte trotz der auffälligen Schminke fahl. Das ungepflegte Haar steckte unter einem Strohhut, und hinter dem Ohr klemmte eine Blüte. Ihr offenkundiger Wunsch, exzentrisch zu wirken, wurde sicher von ihren Schülern heimlich belächelt. Mit diesem Versuch eines Hippie Revival hatte Sandrine sich zur Vogelscheuche gemacht.
Naoko stand auf. Ihre Freundin begrüßte sie mit vier Küssen auf die Wangen. Naoko hasste diese Form der Begrüßung. Sandrine roch nach Moschus und Schweiß. Ihre Bewegungen wirkten fast beunruhigend linkisch und sprunghaft. Trotzdem fühlte Naoko sich jetzt sicherer. Diese merkwürdige Frau war ihr Schutzengel.
Schon dreimal hatte sie seit dem Morgen bei ihr angerufen. Zunächst, um sich zu vergewissern, dass die Kinder gut geschlafen hatten. Später, um sicherzugehen, dass sie wohlbehalten in der Schule angekommen waren. Und zuletzt, um ihrer Freundin eine »Krisensitzung« vorzuschlagen.
»Lieb von dir, dass du mir so weit entgegengekommen bist«, sagte Sandrine und rückte ihren Hut zurecht.
»So ein Unsinn. Immerhin opferst du mir deine Zeit, was ich total süß von dir finde.«
Die Freundin lächelte wie ein Feuerwehrmann, der gerade durch die Flammen springt. Danken Sie mir nicht, ich tue hier nur meine Pflicht.
»Gibt es etwas Neues?«
Naoko wies auf das menschenleere Ufer.
»Laufen wir ein Stück?«
Schweigend hakten sie sich unter und gingen einige Schritte. Schließlich berichtete Naoko von ihrem unguten Gefühl und ihren Ängsten.
»Keine Sorge«, versuchte Sandrine sie zu beruhigen, »Olive wird die Sache schon regeln.«
»Aber er sagt mir nichts«, entgegnete Naoko mit gesenktem Kopf. »Er hat mir noch nie etwas gesagt.«
»Weil du nie etwas wissen wolltest. Du bist diejenige, die ihm verboten hat, von seiner Arbeit zu sprechen.«
Naoko musste lächeln. Sandrine kannte ihre Geschichte in- und auswendig. Und sie hatte recht: Die Mauer des Schweigens hatte Naoko selbst errichtet.
»Diese Schweinerei hat ganz sicher mit seinem Job zu tun«, fuhr Sandrine fort. »Aber er wird den Verantwortlichen schon finden. Du solltest allerdings keinesfalls in der Villa bleiben.«
»Ist bereits in die Wege geleitet. Passan löst mich heute schon ab.«
»Er löst dich ab?«
»Bei den Kindern.«
Sandrine wirkte enttäuscht.
»Bleiben die beiden heute Abend nicht bei mir?«
»Nein. Zumindest darin sind wir uns einig. Wir lassen uns auf keinen Fall unterkriegen.«
»Schläfst du dann bei mir?«
Ohne zu wissen warum, log Naoko.
»Nein, vielen Dank. Ich habe in der Nähe meines Büros ein Hotel gefunden, was ganz gut ist, denn ich muss im Augenblick superfrüh anfangen.«
»Mit anderen Worten, der Krieg mit Olive geht weiter.«
»Ganz richtig. Wie es aussieht, läuft es auf einen Kampf hinaus.«
Sie waren an der Fußgängerbrücke angekommen, die über den Kanal zur Cité des Sciences führte.
»Wollen wir eine Kleinigkeit essen?«, schlug Sandrine hoffnungsvoll vor.
»Nein. Ich habe keinen Hunger. Aber wenn du unbedingt willst, können wir …«
»Vergiss es«, erwiderte Sandrine mit einem gezwungenen Lächeln.
Die beiden Freundinnen setzten ihren Weg fort. Immer noch war keine Menschenseele zu sehen. Im milchigen Sonnenlicht bildeten die weißen Steine der Kaimauern einen lebhaften Kontrast zur Schwärze des Wassers..
»Hat er denn keinen Verdacht?«
»Wie schon gesagt – er erzählt mir nichts. Im Übrigen reden wir schon monatelang nicht mehr miteinander. Und das hat sich seit gestern nicht geändert.«
Fast unmerklich schob Sandrine die Freundin immer weiter in Richtung des Wassers. Schon oft hatte Naoko bemerkt, dass Sandrine sich bei gemeinsamen Spaziergängen an ihren Arm hängte und wie ein Krebs schräg lief.
»Du solltest ihm vertrauen. Immerhin ist er Polizist. Es ist sein Job.«
»Ja eben.«
»Eben was?«
Naoko zögerte, ehe sie weitersprach. Während der ganzen Nacht hatte sie sich bemüht, ihren bösen Verdacht zu verscheuchen. Das schlimmste Szenario von allen, doch sehr viel wahrscheinlicher als die anderen.
»Und wenn er es selbst war?«
Sandrine blieb abrupt stehen.
»Was, er?«, fragte sie ungläubig.
»Vielleicht versucht er mir Angst einzujagen?«
»Sag
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