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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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bei Sommières unterzubringen. Unter den Motorhauben von Coupés und Limousinen entwickelt sich das Elbenwesen. Guillard repariert die Mechanik von Autos und bringt dabei seine eigene in Ordnung. Er liebt es, Motoren auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Zu verstehen, wie sie funktionieren. Die Kraft von Maschinen und das Vibrieren von Ventilen unter den Händen zu spüren. Das ist seine Wissenschaft. Ein neutrales, gleichzeitig kaltes und heißes Betätigungsfeld, wo er sich verlieren und vergessen kann.
    Tatsächlich lässt seine Besessenheit nicht nach, doch geht er jetzt im Verborgenen vor.
    Die anderen erkennen nur sein Feuer.
    1989. Er bekommt staatliche Zuschüsse zu seinem Lehrlingsgehalt, weigert sich jedoch, in einem Lehrlingswohnheim zu leben. Lieber nächtigt er in der Werkstatt, in der Nähe seiner geliebten Motoren. Er besucht Abendkurse, in denen er die Grundlagen des Ingenieurswesens erlernt. Seine Hormonspritzen erhält er jetzt in einem regelmäßigen Rhythmus. Und das Tüpfelchen auf dem i: Dank der allgemeinen Amnestie nach der Wiederwahl von François Mitterand im Jahre 1988 wird sein Vorstrafenregister komplett gelöscht.
    1991. Ortswechsel. Ein alternder Mechaniker in Béziers stellt ihn ein. Alle sind begeistert von ihm. Er kann mit Motoren umgehen, weiß aber auch, wie man die Kundschaft bei der Stange hält. Zwei Jahre später setzt sich der Mechanikermeister zur Ruhe und bietet ihm die Werkstatt zu extrem günstigen Konditionen zum Kauf an. Guillard ist inzwischen zweiundzwanzig. Seine Leidenschaft lässt nicht nach. Er repariert, erneuert und ersetzt. In seinem Leben gibt es weder eine Frau noch einen Mann – nur Karossen, Kolben und Pferdestärken. Er trägt ein rotes Bandana, eine getönte Brille und einen blauen Overall, der seine Muskeln kaschiert. Ironischerweise suchen alle Machos der Umgebung ausgerechnet seine Werkstatt auf – Autonarren, die kaum in der Lage sind, über ihren Schwanz hinauszublicken und Frauen nicht für würdig erachten, die Ledersitze ihrer Flitzer zu verunreinigen.
    Von Zeit zu Zeit gibt er seinen Dämonen nach. Niemand weiß davon. Niemand spürt etwas. Sogar er selbst schafft es, seine nächtlichen Ausflüge zu verdrängen.
    1997. Man bietet ihm die Geschäftsführung einer Niederlassung für deutsche Marken in Montpellier an. Er verzichtet auf das Bandana und ändert seine Bekleidungsgewohnheiten. Schwarzer Armani-Anzug, Stiefeletten von Weston, Hemden von Paul Smith mit steifem Kragen. Er hat seine Stimme, seine Haltung und seine Gesten so gut unter Kontrolle, dass er eine neuerliche Verwandlung nicht fürchtet.
    Er ist jetzt sechsundzwanzig Jahre alt und hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich. Inzwischen wohnt er in einer weitläufigen Wohnung mitten im Viertel L’Écusson. Seine Kunden laden ihn zum Essen ein. Er geht bei der High Society von Montpellier ein und aus. Alles ist eitel Freude und Sonnenschein. Alles – außer ihm selbst.
    Tief in seinem Innern sieht es finster aus. Nichts läuft, wie es sollte. Jeden Abend zieht er Frauenkleider an. Nachts geht er manchmal als Krankenschwester verkleidet in die Kliniken der Umgebung, und manchmal schreitet er auch zur Tat. Die Artikel in den Lokalzeitungen legen Zeugnis dafür ab, dass seine Albträume durchaus Wirklichkeit sind.
    Das Elbenwesen ist immer überhitzt. Sein Leben ist so antiseptisch wie ein Chirurgenmesser, frisch aus dem Sterilisiergerät. Eine scharfe Klinge ohne Makel, die umso besser verletzen kann.
    1999. Er liquidiert seine gesamte Habe, löst seine Kredite ab und reist nach Amerika. Texas. Utah. Colorado. Arizona. Er kehrt zum blauen Overall und den Motoren zurück. Er fühlt sich frei. Er ist glücklich. Er fühlt sich wohl in diesem Land, das allen Einwanderern offen steht, auch wenn sie, wie er, von einem anderen Stern stammen.
    Aber das Feuer ist immer noch da. Unmittelbar neben seinem Herzen. Zeitungsausschnitte in englischer Sprache berichten von seinen Ausflügen in die amerikanischen Wüsten. Die Geschlechter, die sich in seinem Innern aneinanderreiben, sind wie zwei Stahlscheiben, die einander mit zehntausend Umdrehungen pro Minute berühren. Nur in der Glut kann er sich selbst verwirklichen. Sein Schicksal ist das Feuer.
    2001. Der Mechanikermeister kehrt nach Frankreich zurück. Und zwar nicht irgendwohin, sondern ins 9–3. Ist es Heimweh nach den Stätten seiner Kindheit? Nein, dieses Gefühl kennt er nicht. Die einzigen ihm bekannten Empfindungen

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