Die Wahrheit des Blutes
Arbeitsstätten in den gläsernen Blocks der Rue Anatole France und drängten sich in Richtung des Pont de Levallois.
Passan schaltete sein Handy ein. Naoko hatte eine weitere SMS hinterlassen, die er löschte, ohne sie zu lesen. Als er in sein Auto stieg, klingelte das Telefon. Sofort dachte er an Naoko, doch es war Fifi.
»Das Krankenhaus Sainte-Marie in Aubervilliers ist samt allen Archiven abgebrannt.«
»Alles weg?«
»Alles.«
»Und wann war das?«
»2001.«
In dem Jahr, als Guillard ins 9–3 zurückkehrte.
»Ein Unfall?«
»Man geht von Brandstiftung aus, hat aber keine Beweise sicherstellen können.«
Passan überlegte. Da war der fehlgeschlagene Versuch des jungen Guillard, Feuer im Schlafsaal von Jules-Guesde zu legen. Dann der Brand in Sainte-Marie. Und die verkohlten Säuglinge.
»Such nach der Hebamme, den Krankenschwestern und den Ärzten, die zu Guillards Zeit in der Klinik arbeiteten.«
»Olive, wir haben auch noch anderes zu tun …«
»Du verhörst sie und findest heraus, wer die Mutter war.«
»Niemand wird sich erinnern.«
»An ein Kind mit verkümmerten Sexualorganen, weder Junge noch Mädchen, dessen Mutter anonym entbunden hat? Alle werden sich erinnern. Identifiziere die Mutter und finde sie.«
»Ist das alles?«
»Nein. In der Akte, die ich dir gegeben habe, steht alles über Guillards Jugend. Finde heraus, ob es im Lauf der Zeit noch öfter in seiner Umgebung gebrannt hat.«
»Hältst du ihn für einen Pyromanen?«
»Tu es und ruf mich dann zurück.«
35
»Es ist nun wirklich kein Verbrechen, nicht wie ein Geistesgestörter zu rasen.«
Passan war stinkwütend. Er war um halb acht zu Hause gewesen, ohne sich noch einmal bei Naoko zu melden. Daraufhin hatte sie sich direkt an Gaia gewandt und erfahren, dass Passan um sieben noch nicht bei den Kindern gewesen war. Als er Naoko schließlich von der Villa aus anrief, bekam er richtig Ärger.
Statt sich sofort an den Abendbrottisch zu setzen, hatte er zunächst auf den Klavierübungen bestanden, um den Abend wie alle anderen ablaufen zu lassen. Allerdings war er so nervös, dass Shinji es spürte und unsicherer spielte als sonst.
»Mist! Machst du das absichtlich?«
Shinji wiederholte den ersten Satz von Mozarts Sonata facile in C-Dur. Jedes Mal stolperte er an derselben Stelle, einer Folge von Läufen, die vom Haupt- zum Seitensatz überleiten. Passan saß mit grimmigem Gesicht neben ihm und wippte im Takt. Inzwischen fürchtete er die kritische Passage fast selbst.
Die Klavierübungen liefen eigentlich niemals glatt. Die Kinder waren anschließend verstört, und Passan selbst fühlte sich leer und traurig, weil er wieder einmal die Menschen zum Weinen gebracht hatte, die er am meisten auf der ganzen Welt liebte. Trotzdem legte er großen Wert darauf, dass seine Kinder gute Pianisten wurden. Er selbst hatte sich in seinen Pflegefamilien zumindest die Grundzüge des Klavierspiels aneignen können.
Wieder kamen die Läufe und mit ihnen wieder die falschen Noten. Wütend schlug Passan mit der flachen Hand auf die Seite des Klaviers und sprang auf. Shinji brach ab. Die Luft knisterte geradezu. Diego verschwand hinter dem Sofa.
Verärgert durchmaß Passan mit großen Schritten das Zimmer. In Hemdsärmeln und mit der 45er im Gürtel wirkte er eher wie ein Polizist beim Verhör als wie ein liebevoller Vater.
»Verdammt noch mal«, brüllte er, »vor drei Tagen konntest du es doch noch!«
Shinji kauerte mit gesenktem Kopf auf dem Klavierhocker und blieb stumm. Aus dem oberen Stock drangen die näselnden Geräusche eines Videospiels. Hiroki versuchte sich abzulenken, während er darauf wartete, ebenfalls an die Reihe zu kommen. Passan wollte seinem Sohn gerade befehlen, noch einmal von vorn anzufangen, als er feststellte, dass Shinjis Füße den Boden nicht berührten. Nur ein winziges Detail, doch plötzlich wurde ihm klar, wie verletzlich das Kind und wie ungleich der Kampf war.
Seine Wut verrauchte auf der Stelle. Er zauste dem Kleinen die Haare und gab ihm einen dicken Kuss.
»Schon gut, wir machen jetzt einfach Schluss. In zehn Minuten gibt es Abendbrot.«
»Und Hiroki?«
»Das sehen wir dann morgen.«
Der Junge sprang vom Hocker. Auch wenn sein Bruder ungeschoren davongekommen war, würde er lieber keine Diskussion riskieren. Mit dem Hund auf den Fersen flüchtete er die Treppe hinauf.
Passan seufzte und ging zum Fenster. Unten auf der Straße standen Jaffré und Lestrade auf ihren Posten. Mit Jaffré hatte
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