Die Wahrheit des Blutes
in Sicht. Von außen sah das Gebäude aus wie ein Labor oder eine Zeitarbeitsagentur. Hohe Fenster, farblose Sichtblenden. Ein Schild mit grauen Buchstaben: »Vandernoot. Chirurgische Kleintierpraxis.« Passan parkte vor einer Ausfahrt und betrat das Haus.
Das Wartezimmer war leer. An den Wänden hingen Poster mit Bildern von Haustieren. Ein niedriger Tisch brach fast unter einschlägigen Zeitschriften zusammen: Der Hund, Ein Herz für Tiere, Du und das Tier, Reiterrevue … Ein merkwürdiger Geruch nach Zoo und Äther hing in der Luft. Rechts befand sich eine Anmeldung mit einer Klingel.
Eine lange Minute später erschien ein Mann in einem grünlichen Kittel. Vandernoot war klein und gedrungen, etwa sechzig Jahre alt und hatte einen langen, dünnen Hals, der überhaupt nicht zu seinem Körperbau passen wollte. Sein Kopf baumelte nach vorn wie der einer Schildkröte. Auf der Nase saß eine schmale, mit einer Kette um den Hals befestigte Lesebrille. Seine grauen Augen lagen tief in den Höhlen und erinnerten an Muscheln in ihren Schalen.
»Sind Sie der Polizist?«
Passan hatte Rudel gebeten, den Tierarzt über sein Kommen zu informieren.
»Olivier Passan, Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei«, stellte Passan sich vor. »Ich möchte den Autopsiebericht des Kapuzineraffen abholen. Und Ihre persönliche Meinung darüber hören.«
»Kommen Sie bitte mit.«
Sie betraten einen überheizten Raum, dessen Ausstattung an die letzte Szene eines Horrorfilms erinnerte. An den Wänden hingen unzählige Käfige. Hinter den Gittern tummelten sich Affen, die kaum einen Laut von sich gaben und die eingetretenen Menschen mit durchdringenden Blicken beäugten. Der Tisch in der Mitte des Raums war zugedeckt. Auf dem Boden lagen Haare, Blut und Sägespäne.
Das Schlimmste war der Geruch. Es stank nach Exkrementen, Blut, rohem Fleisch und Hundeschweiß.
»Ich lade Sie lieber nicht ein, Platz zu nehmen.«
Passan fragte sich, wie jemand sein Haustier diesem Doktor Frankenstein anvertrauen konnte. Vandernoot riss das Tuch fort, das über den Untersuchungstisch gedeckt war. Da lag sie, die entsetzliche Kreatur, immer noch in ihrer Embryonenhaltung. Weiße Fäden kamen aus Bauch und Schädel: Der Arzt hatte sie nach der Autopsie wieder zusammengenäht. Das Gehirn hatte der Arzt in ein Glas gelegt. Andere Behälter enthielten die restlichen Organe, die in einer rötlichen Flüssigkeit schwammen.
»Was können Sie mir über dieses Ding da sagen?«
»Ein Männchen, etwa fünf Jahre alt. Keine Auffälligkeiten.«
»Wir reden hier über einen enthäuteten Affen, den man in einem Kühlschrank gefunden hat.«
»Das ist nur der Kontext. Was die Verstümmelung angeht, so war hier wohl ein Profi am Werk. Der Affe wurde nach allen Regeln der Kunst gehäutet.«
»Also ein Tierarzt?«
»Ein Tierarzt, Metzger oder Jäger.«
Nichts davon passte zu Guillard.
»Wie wurde das Tier getötet?«
»Schwer zu sagen, Ich gehe von einer tödlichen Injektion aus.«
»Keine Verletzungen?«
»Nichts. Zunächst dachte ich, man hätte ihm das Genick gebrochen, aber seine Wirbel sind in Ordnung.«
»Haben Sie ihn auf Gift untersucht?«
»Wenn Sie so etwas wollen, müssen Sie mir einen Schrieb vom Staatsanwalt bringen …«
»Schon gut, vergessen Sie es.«
Passan hatte noch immer keine Anzeige erstattet. Rechtlich gesehen existierte der Vorfall in seiner Villa also gar nicht.
»Das Tier ist im Übrigen schon so lange tot, dass möglicherweise gar nichts mehr nachweisbar wäre.«
»Ich finde eigentlich, dass es ziemlich frisch aussieht.«
»Gut ausgedrückt. Es war nämlich eingefroren. Darauf gibt es untrügliche Hinweise wie zum Beispiel eine Zersetzung von Organen. Außerdem sind einige Adern geplatzt.«
»Sie meinen also …«
»Dass das Tier schon vor Monaten oder vielleicht sogar Jahren getötet wurde. Der genaue Zeitpunkt ist nicht mehr feststellbar. Sicher ist nur, dass es aufgetaut wurde, ehe es im Kühlschrank landete.«
»Kann man solche Tiere kaufen? Ich meine: tiefgefroren?«
Bei dieser Vorstellung musste Vandernoot lachen. Er zündete sich ein Zigarillo an. Davidoff.
»Aus Afrika werden manchmal gefrorene Exemplare nach Europa exportiert. Allerdings haben diese Affen noch ihr Fell und werden auch nicht mit einer Giftspritze getötet. Aber der Cebus apella stammt aus Südamerika und wird meines Wissens auch nicht gegessen.«
Passan dachte nach. Der Eindringling hatte einen Gehaubten Kapuziner besorgt, und zwar vermutlich ein
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