Die Wahrheit des Blutes
Passan schon früher zusammengearbeitet. Der Kollege war 2001 bei einem Einsatz in Cachan dabei gewesen. Ein Polizist war ums Leben gekommen, aber keiner der Ganoven hatte überlebt. An diesem Tag hatten Passan und Jaffré zum ersten Mal im Leben getötet.
Lestrade hingegen ähnelte eher Fifi. Er war ein meisterlicher Sportschütze, der immer so aussah, als käme er gerade von einer Raveparty – oder aus dem Knast.
Die Polizisten erblickten ihn und winkten. Um Mitternacht sollten Fifi und Mazoyer – ebenfalls ein harter Bursche – die beiden ablösen.
Zehn nach acht. Passan ging in die Küche.
Gegenüber dem von Naoko seit langer Zeit eingeführten Stundenplan war er deutlich im Verzug. Eigentlich sollten die Kinder spätestens um acht Uhr mit geputzten Zähnen im Bett liegen, nachdem sie ihre Schultaschen für den folgenden Tag gepackt hatten. Passan setzte Wasser für Spaghetti Carbonara auf – das einzige Gericht, das er kochen konnte. Obwohl es schon so spät war, hatte er es abgelehnt, das Kindermädchen kochen zu lassen.
Er briet Speckwürfel in einer Pfanne knusprig, während die Nudeln kochten. Das richtige Timing hatte er im Blut. Bis die Nudeln al dente waren, hatten die Speckwürfel den richtigen Bräunungsgrad. Gleichzeitig bereitete er die Sauce vor: Sahne, Eier, Muskatnuss. Sein Geheimnis war, dass er einen Schuss Olivenöl zu den bratenden Speckwürfeln gab. Das Öl sorgte für eine hübsche Bräune und würzte gleichzeitig die Sahne, sobald er alles vermischte. Jedes Mal servierte er sein Meisterwerk mit demselben Scherz: »Papa ist der beste Koch der Welt.« Die ganze Familie stimmte dem zu.
Das Abendessen verlief heiter. Von Gewissensbissen geplagt, spielte Passan den Clown. Die Grissini, die er zu den Nudeln servierte, mussten als Vampir- oder Walrosszähne und als Marsmännchenantennen herhalten. Shinji und Hiroki lachten schallend.
Während er seine Kinder amüsierte, bewunderte Passan ihre Schönheit. Wahrscheinlich geht es allen Eltern so, aber bei diesen beiden kam die gelungene Mischung hinzu. Die Sinfonien von Akira Ifukube oder Teizo Matsumura vereinten den fernen Osten und den Westen. Bei seinen Söhnen hatte Passan das gleiche Gefühl: Die Gene des Ostens und des Westens waren in ihnen eine zärtliche Liebesbeziehung eingegangen.
Gemeinsam putzten sie sich die Zähne und packten die Schultaschen. Dann bekam jedes der Kinder eine Geschichte erzählt. Nachdem er beiden einen Gutenachtkuss gegeben hatte, ließ Passan das Flurlicht an und die Tür angelehnt. Das Nachtlicht warf Sterne an die Zimmerdecke.
Für ihn begann jetzt erst die Arbeit.
36
Auf dem Dach fing er an. Keine besonderen Vorkommnisse. Er pfiff nach Diego, der an der Brüstung entlangtrottete, und stieg die Treppe hinunter. Erster Stock. Er trat in jedes Zimmer. Das der Kinder, die inzwischen schliefen. Das stumme, leere Zimmer von Naoko. Beide Bäder. Während er sämtliche Schränke durchsuchte, machte er kein Licht, sondern begnügte sich damit, die Kleider zu betasten. Ecken und Böden blieben im Halbdunkel. Als er Naokos Kleider und Blusen berührte, verspürte er keine Sehnsucht, sondern eher eine unbestimmte Abscheu und das seltsame Gefühl, ein Tabu zu brechen.
Erdgeschoss. Auch hier war alles in Ordnung. Passan war glücklich, wieder in seinem Haus sein zu dürfen. Zwischen diesen Mauern herrschte eine klare Reinheit ohne Pathos und Dramatik, in der er sich wohlfühlte und die ihn tröstete. Er dachte an ein Zitat des Wieners Adolf Loos, einem Vordenker der Architektur des 20. Jahrhunderts: »Der moderne Mensch, der Mensch mit den modernen Nerven, braucht das Ornament nicht, er verabscheut es.«
Wohnzimmer. Esszimmer. Nichts. Passan betrat die Küche und blieb vor dem Kühlschrank stehen. Er musste sich zwingen, ihn zu öffnen und eine Cola Zero herauszunehmen, obwohl Gaia ihn geleert, gründlich gereinigt und neu gefüllt hatte. Immer noch fragte er sich, wer für die ekelhafte Tat verantwortlich war. Wirklich Guillard? Nach einer Runde durch das Untergeschoss stellte er zufrieden fest, dass alles völlig normal war, und ertappte sich bei der Hoffnung, dass der Vorfall eine Warnung ohne Folgen sein könnte. Vielleicht wirklich nur ein makaberer Scherz?
Er schickte Naoko eine SMS. »Alles in Ordnung«, schrieb er und setzte nach kurzem Zögern hinzu: »Kuss.«
Danach trat er in die kühle, feuchte Nacht hinaus, überquerte den Rasen und ging zu seinen Männern, die jenseits des weißen Zauns
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