Die Wahrheit des Blutes
lebendes Exemplar. Er hatte dem Affen irgendetwas Tödliches injiziert und ihn gehäutet und eingefroren, während er auf den richtigen Zeitpunkt für seine Tat wartete. Die Vorgehensweise erforderte sowohl Fachwissen als auch besonderes Werkzeug. Dass es sich bei dem Täter um Guillard handelte, wurde immer unwahrscheinlicher. Vor allem die Inszenierung ließ auf eine lange Vorbereitung schließen.
»Wo findet man in Frankreich Kapuzineraffen?«
»Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Oft werden sie als Haustiere gehalten. Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass unser Exemplar auf dem offiziellen Weg erworben wurde.«
»Wieso?«
»Weil dieser Affe hier weder gekennzeichnet noch tätowiert ist.«
»Na ja, man hat ihm schließlich das Fell über die Ohren gezogen.«
»Tätowierungen befinden sich meistens in der Innenseite der Ohrmuschel. Zumindest wird es bei den zu medizinischen Zwecken eingesetzten Tieren so gemacht.«
»Bitte?«
Vandernoot zog an seinem Zigarillo.
»Vor einigen Jahren hat man angefangen, Kapuzineraffen als Therapietiere einzusetzen. Um Querschnittsgelähmten bei der Bewältigung ihres Tagesablaufs zu helfen. Allerdings ist man inzwischen wieder davon abgekommen. Es war zu teuer.«
Passan erinnerte sich. Affen, die Schwerbehinderten halfen. Vergleichbar den Blindenhunden.
»Ich habe an diesem Projekt teilgenommen«, fuhr der Tierarzt fort. »Wir haben mit Belgiern und Kanadiern zusammengearbeitet.«
»Haben Sie Kapuziner dressiert?«
»Ja, zusammen mit einigen Kollegen.«
»Und was ist aus Ihren ›Schülern‹ geworden?«
Der Mann versetzte den Käfigen einen Tritt. Es schepperte. Die Tiere begannen zu kreischen.
»Die sind alle noch hier, die Mistviecher.«
Erneut trat Vandernoot gegen die Eisenstangen. Sofort hörte der Lärm auf. Passan bückte sich und betrachtete die zierlichen Kreaturen mit ihren großen Augen und der schwarzen Mähne. Von einem solchen Tier den Kaffee gemacht zu bekommen wäre ihm nicht besonders angenehm gewesen.
»Warum behalten Sie sie?«
»Ich dressiere sie auf eigene Faust weiter. Ich finde sie witzig.«
»Haben Sie vor, mit ihnen im Zirkus aufzutreten?«
»Warten Sie, ich zeige es Ihnen.«
Vandernoot öffnete einen der Käfige. Eine schwarze Pelzkugel sprang in seine Arme. Das Tier hatte ein glänzendes Fell. Wie ein Nager. Schnell, geschickt und geschmeidig schlug es Purzelbäume auf der Stelle. Sein langer, pelziger Schwanz glänzte im Licht der Neonlampen wie ein Muskel aus Seide.
Vandernoot setzte das Tier ans Ende des Tisches neben seinen enthäuteten Artgenossen. Er konnte den Affen problemlos mit einer Hand tragen. Der Kapuziner war nicht größer als dreißig Zentimeter. Passan musste an Joli Coeur denken, den schlauen Affen im Roman Heimatlos von Hector Malot.
»Darf ich Ihnen Cocotte vorstellen?«
Trotz des pelzigen Köpfchens ähnelte das Weibchen mit seinen abstehenden Ohren und dem rosigen Mund einem Menschenbaby. Einem wenige Monate alten, behaarten Kind. Das Tier fixierte Passan mit seinen großen schwarzen Augen in einer Mischung aus höchster Aufmerksamkeit und völligem Desinteresse.
Der Tierarzt zog die Schachtel Davidoff aus der Tasche und bot dem Tier mit einer ironischen Verbeugung ein Zigarillo an. Der Affe nahm es und steckte es sich sofort in den Mund. Vandernoot gab ihm Feuer.
Cocotte rauchte in langen Zügen. Rauchringe stiegen zwischen ihren spitzen Zähnen und aus ihren winzigen Nasenlöchern auf. Vandernoot lachte schallend. Passan schüttelte den Kopf. Er fand das Schauspiel bedrückend.
Inzwischen war es fast sieben. Er musste los. Heim. Und zwar schnell.
»Was halten Sie von dem Kerl, der das Tier in den Kühlschrank gesteckt hat?«, fragte er, um zum Ende zu kommen.
»Ein Witzbold.«
»Das ist aber ein ziemlich aggressiver Scherz, finden Sie nicht?«
Der Tierarzt zuckte die Schultern, nahm Cocotte das Zigarillo fort und schüttete einige Tropfen Grenadinesirup in ein Schälchen. Das Äffchen schleckte die süße Flüssigkeit eifrig aus und schlüpfte freiwillig wieder in seinen Käfig.
Vandernoot drückte die Kippe aus und wandte sich an Passan.
»Möchten Sie noch mehr sehen? Ich habe Affen, die Karten spielen können.«
Passan lehnte lächelnd ab und verließ die Praxis. Hier war nichts für ihn zu holen. Er rannte zu seinem Subaru. Den Verkehrslärm und den säuerlichen Gestank der Straße nahm er kaum wahr. Um diese Uhrzeit war Levallois brechend voll: Scharen von Menschen verließen ihre
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