Die Wahrheit eines Augenblicks
Plastiktüte mit der Tupperware vom Beifahrersitz und stieg aus. Vielleicht war sie auch deshalb hier, weil sie wusste, dass Rachel allen Grund der Welt hatte, sie zu hassen, und weil sie den Gedanken nicht ertrug, dass irgendwer sie hassen könnte. Ich bin doch ein Kind, dachte sie bei sich, als sie an der Haustür klopfte. Ein Kind mittleren Alters und in der Perimenopause.
Die Tür wurde schneller als erwartet geöffnet. Cecilia war gerade noch dabei, ein freundliches Gesicht aufzusetzen.
»Oh«, entfuhr es Rachel überrascht. »Cecilia.«
»Es tut mir leid.« Sehr, sehr leid . »Erwartest du jemanden?«
»Nein, eigentlich nicht.« Rachel fasste sich wieder. »Wie geht es dir? Meine Tupperware! Wie schön! Ich danke dir vielmals. Möchtest du reinkommen? Wie geht es deinen Mädchen?«
»Die sind bei meiner Mutter. Sie fühlte sich schlecht, weil sie bei der Ostermützen-Parade heute nicht dabei sein konnte. Und deshalb hat sie die Kinder heute Nachmittag zum Tee eingeladen. Aber das spielt keine Rolle. Nein, ich muss gleich weiter, ich …«
»Bist du sicher? Ich habe gerade Teewasser aufgesetzt.«
Cecilia war zu matt, um sich eine Entschuldigung einfallen zu lassen. Sie würde sich Rachels Wünschen fügen. Ihre Beine konnten sie kaum tragen, so sehr zitterten sie. Wenn Rachel sie jetzt auffordern würde, alles zu beichten, so würde sie das tun. Ja, sie sehnte sich fast danach.
Sie trat über die Schwelle, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, als wäre sie in Lebensgefahr. Das Haus ähnelte Cecilias eigenem Heim; es war typisch für diese Gegend an Sydneys Nordküste.
»Komm mit in die Küche!«, bat Rachel. »Dort ist die Heizung an. Am Nachmittag wird es schon recht kühl.«
»Oh, wir haben das gleiche Linoleum!«, bemerkte Cecilia auf dem Weg in die Küche.
»Das war vor Jahren mal topmodern«, sagte Rachel und hängte die Teebeutel in die Tassen. »Ich bin nicht gerade eine Heimwerkerin, wie du siehst. Ich kann mich kaum begeistern für Kacheln, Teppiche, Wandfarben und den ganzen Kram . Hier, bitte schön. Milch? Zucker? Bediene dich!«
»Ist das Janie?«, fragte Cecilia. Sie blieb vor dem Kühlschrank stehen. Janies Namen auszusprechen war geradezu eine Befreiung, so erdrückend war die Präsenz des Mädchens in Cecilias Gedanken. Es fühlte sich an, als würde ihr Name jeden Moment unkontrolliert aus ihr herausplatzen, wenn sie ihn jetzt nicht ganz einfach aussprechen würde.
Das Foto an Rachels Kühlschrank war mit einem Magnethalter befestigt. Darauf prangte ein Werbeaufdruck von Peters Sanitär-Betrieb mit 24-Stunden-Notfall-Service . Es war ein kleines, verblasstes Farbfoto von Janie und ihrem jüngeren Bruder, die mit jeweils einer Cola in der Hand vor einem Grill standen. Der Fotograf hatte sie wohl unvorbereitet abgelichtet, denn beide hatten sich mit natürlicher, lockerer Miene zur Kamera hin umgedreht. Es war kein sonderlich gutes Foto. Aber gerade das Unprätentiöse, Zufällige dieses Schnappschusses schien es völlig ausgeschlossen zu machen, dass Janie tot war.
»Ja, das ist Janie«, sagte Rachel. »Das Foto hing am Kühlschrank, als sie starb, und ich habe es nie abgenommen. Eigentlich albern. Ich habe viel bessere Fotos von ihr. Komm, setz dich! Ich habe noch ein bisschen Gebäck da, Makronen. Richtig leckere Makronen. Du kennst dich damit bestimmt aus. Ich jedenfalls bin nicht so eine Feinschmeckerin.« Nein, Cecilia war auch keine Feinschmeckerin und merkte, dass sie eigentlich stolz darauf war. »Greif zu! Sie sind wirklich gut!«
»Danke.« Cecilia setzte sich und nahm sich eine Makrone. Sie schmeckte nach nichts, wie Staub. Sie nahm einen Schluck Tee, doch er war noch viel zu heiß, und sie verbrannte sich die Zunge.
»Danke, dass du mir die Tupperware-Bestellung vorbeibringst«, meinte Rachel. »Ich freue mich schon darauf, die Sachen zu benutzen. Morgen jährt sich Janies Todestag. Zum achtundzwanzigsten Mal.«
Cecilia brauchte eine Weile, bis sie verstand, was Rachel gerade gesagt hatte. Sie konnte nicht so schnell umschalten von Tupperware auf Todestag.
»Das tut mir leid«, erwiderte sie und bemerkte mit einem beinahe wissenschaftlichen Interesse, dass ihre Hand sichtlich zitterte. Vorsichtig stellte sie ihre Tasse zurück auf den Unterteller.
»Nein, mir tut es leid«, sagte Rachel. »Ich weiß nicht, warum ich dir das gerade erzählt habe. Ich habe heute nur einfach viel an sie gedacht. Mehr als sonst. Ich frage mich manchmal, wie oft ich an sie denken
Weitere Kostenlose Bücher