Die Wahrheit eines Augenblicks
würde, wenn sie noch leben würde. An den armen Rob denke ich längst nicht so viel. Um ihn habe ich keine Angst. Dabei ist das doch seltsam. Müsste man, wenn man ein Kind verloren hat, nicht umso größere Angst haben, dass auch dem anderen Kind etwas zustoßen könnte? Aber diese Angst habe ich nicht. Ist das nicht schrecklich? Ich habe viel mehr Angst, dass meinem Enkel etwas passieren könnte. Jacob.«
»Ich glaube, das ist ganz natürlich«, gab Cecilia zurück und war plötzlich erstaunt über ihre eigene haarsträubende Dreistigkeit, hier in dieser Küche zu sitzen und über einer Tasse Tee und Tupperware irgendwelche Phrasen zu dreschen!
»Ich liebe meinen Sohn wirklich«, murmelte Rachel in ihre Tasse und warf Cecilia über den Rand hinweg einen beschämten Blick zu. »Nicht, dass du jetzt denkst, er ist mir egal.«
»Nein, das würde ich nie denken!« Da bemerkte Cecilia zu ihrem Entsetzen, dass mitten auf Rachels Unterlippe ein blaues Makronenflöckchen klebte. Schrecklich würdelos fand sie das, zumal Rachel ihr plötzlich sehr viel älter vorkam, fast wie eine an Demenz erkrankte Greisin.
»Ich habe nur das Gefühl, dass Rob jetzt zu Lauren gehört. Wie heißt es in einem alten Sprichwort so schön? ›Ein Sohn bleibt ein Sohn, bis er eine Frau nimmt; eine Tochter bleibt eine Tochter ihr ganzes Leben lang.‹«
»Ja, das Sprichwort kenne ich. Ich weiß aber nicht, ob es stimmt.« Cecilia litt Qualen. Sie konnte Rachel unmöglich sagen, dass auf ihrer Lippe ein Makronenkrümel klebte. Schon gar nicht, da sie gerade über Janie sprachen.
Rachel führte die Tasse erneut an ihren Mund, und Cecilia sah angespannt zu. Jetzt war der Krümel sicher weg. Rachel senkte Hand und Tasse. Der Krümel war nun etwas zur Seite gerutscht und stach noch mehr ins Auge. Cecilia musste Rachel darauf hinweisen.
»Ich weiß wirklich nicht, warum ich so viel schwafele«, sagte Rachel. »Du denkst wahrscheinlich, ich habe einen Knall. Ich stehe ein bisschen neben mir, wie du siehst. Als ich neulich abends von der Tupper-Party nach Hause kam, habe ich etwas gefunden.«
Sie leckte sich über die Lippen, und das blaue Makronenflöckchen war endlich weg. Cecilia entrang sich ein wohliger Seufzer der Erleichterung.
»Etwas gefunden?«, wiederholte sie Rachels Worte und nahm einen kräftigen Schluck Tee. Je schneller sie trank, desto eher konnte sie wieder gehen. Doch der Tee war sehr heiß. Rachel musste ihn mit sprudelnd kochendem Wasser aufgegossen haben.
»Etwas, das beweist, wer Janie getötet hat«, fuhr Rachel fort. »Es ist ein Beweis. Ein neuer Beweis. Ich habe diesen Beweis der Polizei übergeben … oh! Oh, meine Liebe! Cecilia! Alles in Ordnung mit dir? Komm, halt dein Handgelenk schnell unter den Wasserhahn!«
43
Tess hatte ihre Arme fest um Connors Taille geschlungen, während sein Motorrad rasant um die Ecken schoss. In ihrem peripheren Sichtfeld erschienen die Straßenlaternen und Schaufensterfassaden nur als verschwommene, farbige Lichtstreifen. Der Wind heulte in ihren Ohren. Jedes Mal, wenn sie an einer Ampel anfuhren, spürte sie ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, so wie im Flugzeug, wenn es von der Startbahn abhob.
»Keine Angst, ich bin ein sicherer, langweiliger Motorradfahrer im fortgeschrittenen Alter«, hatte Connor gesagt, als er ihr den Helm aufgesetzt und ihn für sie eingestellt hatte. »Ich bleibe unter dem Tempolimit. Vor allem, wenn ich kostbare Fracht an Bord habe.« Dann neigte er den Kopf zu ihr hinunter und schlug sanft mit seinem Helm gegen den ihren. Tess fühlte sich berührt, geschätzt und auch ein bisschen verrückt. Sie war zu alt für Helmküsse oder kokette Bemerkungen wie diese. Sie war zu verheiratet.
Aber vielleicht auch nicht.
Tess versuchte, sich zu erinnern, was sie vergangenen Donnerstagabend gemacht hatte, zu Hause in Melbourne, als sie noch Wills Frau und Felicitys Cousine gewesen war. Sie hatte Apfel-Muffins gebacken. Ja, jetzt fiel es ihr wieder ein. Für Liam. Er liebte Apfel-Muffins in der Schulpause. Danach hatte sie mit Will noch ein bisschen ferngesehen, und sie hatten dabei beide ihren Laptop auf dem Schoß gehabt. Sie musste noch ein paar Rechnungen schreiben. Und er arbeitete an der Hustenstopper-Kampagne. Anschließend lasen sie noch ein wenig und gingen dann zu Bett. Warte. Nein. Doch. Doch, sie gingen zu Bett. Und sie hatten Sex. Kurz, wohltuend, angenehm – genau wie ein Muffin (ein flüchtiges Vergnügen). Nicht vergleichbar mit dem Sex in Connors
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