Die Wahrheit eines Augenblicks
das.«
Vor den schweren Holztüren, die zur Intensivstation führten, lag ein langer, breiter Korridor, der ausschließlich den Angehörigen der Patienten vorbehalten war. Durch die raumhohen Fenster flutete staubgeflecktes Sonnenlicht herein, was Rachel an eine Kirche erinnerte. Braune Lederstühle säumten den Flur, auf denen Menschen saßen, die lasen, SMS schrieben oder telefonierten. Mit angespannten, übermüdeten Gesichtern ertrugen die Menschen endlos lange Wartezeiten. Hin und wieder gab es spontane, gedämpfte Gefühlsausbrüche.
Rachel saß auf einem der braunen Lederstühle, die Holztüren fest im Blick, und wartete darauf, dass Cecilia oder John-Paul Fitzpatrick herauskam.
Was sagt man den Eltern eines Kindes, das man mit dem Auto überfahren hat, das man beinahe totgefahren hat?
Tut mir leid , waren wohl kaum die passenden Worte. Tut mir leid – das sagt man, wenn man im Supermarkt aus Versehen mit einem anderen Einkaufswagen zusammenstößt. Es musste größere Worte geben.
Es tut mir zutiefst leid. Was passiert ist, erfüllt mich mit größtem Bedauern. Ich werde es mir nie verzeihen können .
Was sagt man, wenn man das wahre Ausmaß der eigenen Schuld kennt, die so viel größer ist als die allgemein angenommene? Die ungemein jungen Rettungssanitäter und die Polizeibeamten, die gestern am Unfallort eingetroffen waren, hatten sie nur wie eine tatterige, alte Frau behandelt, die in einen tragischen Verkehrsunfall verwickelt war. Doch es war anders gewesen. Worte hatten sich in Rachels Kopf geformt: Ich habe Connor Whitby gesehen und das Gaspedal durchgedrückt. Ich habe den Mann gesehen, der meine Tochter ermordet hat, und ich wollte ihn töten .
Aber irgendein schrecklicher Selbsterhaltungstrieb hatte sie wohl davon abgehalten, diese Worte laut auszusprechen, da man sie sonst wegen versuchten Mordes eingesperrt hätte.
»Ich habe Polly nicht gesehen. Ich habe sie nicht gesehen, bis es zu spät war.« Soweit sie sich erinnerte, war das alles, was sie laut gesagt hatte.
»Wie schnell sind Sie gefahren, Mrs. Crowley?«, fragte man sie freundlich und respektvoll.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Es tut mir leid. Ich weiß es nicht.«
Es stimmte. Sie wusste es nicht. Aber sie wusste, dass jede Menge Zeit gewesen wäre, um rechtzeitig zu bremsen, damit Connor Whitby unversehrt über die Straße kam.
Die Polizeibeamten hatten ihr erklärt, dass sie wohl nicht mit einer Anklage würde rechnen müssen. Anscheinend hatte ein Mann in einem Taxi gesehen, wie das kleine Mädchen auf dem Fahrrad ihr direkt vor das Auto gefahren war. Die Beamten wollten wissen, wen sie anrufen könnten, damit jemand sie abholen kam. Sie hatten darauf bestanden, nachdem sie eigens für sie einen zweiten Krankenwagen angefordert hatten. Doch der Sanitäter kam nach einer gründlichen Untersuchung zu dem Schluss, dass keine Veranlassung bestehe, sie in eine Klinik einzuliefern. Rachel gab dem Polizisten Robs Nummer, und Rob war blitzschnell da (er musste jedes Tempolimit überschritten haben). Lauren und Jacob waren bei ihm. Rob war kreidebleich. Jacob grinste und winkte Rachel mit seinen Patschhändchen vom Rücksitz des Autos aus zu. Der Sanitäter erzählte Rob und Lauren, dass Rachel wahrscheinlich einen leichten Schock erlitten habe, sie sich ausruhen und warm halten müsse und auf gar keinen Fall allein gelassen werden dürfe. Und sie solle baldmöglichst ihren Hausarzt aufsuchen.
Es war entsetzlich. Rob und Lauren folgten brav den Anweisungen, und Rachel wurde sie nicht wieder los, so sehr sie es versuchte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, während die beiden nicht von ihrer Seite wichen, ihr Tee und Kissen brachten. Und zu alldem tauchte auch noch der stets heitere, junge Pater Joe auf, der sich sehr bestürzt darüber zeigte, dass seine Schäfchen einander über den Haufen fuhren. »Sollten Sie nicht eigentlich in der Kirche sein?«, fragte Rachel undankbar.
»Alles unter Kontrolle, Mrs. Crowley«, erklärte er. Dann ergriff er ihre Hand und sagte: »Sie wissen, dass es ein Unfall war, Mrs. Crowley? Unfälle passieren. Jeden Tag. Sie dürfen sich nicht die Schuld geben.«
Oh, du süßer, unschuldiger, junger Mann , dachte sie bei sich, was weißt du denn von Schuld? Du hast ja keine Ahnung, wozu deine Schäfchen fähig sind. Glaubst du denn wirklich, wir beichten dir unsere wirklichen Sünden? Unsere schrecklichsten Sünden?
Immerhin versprach er, sie über Pollys Genesung auf dem
Weitere Kostenlose Bücher