Die Wahrheit eines Augenblicks
nichts.«
»Weiß sie es?«
»Nein.«
Die Angst davor, es Polly zu sagen, war unendlich, riesengroß, mit Tentakeln, die um sich griffen, sich wanden und krümmten, weil sie nicht einmal angefangen hatte, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie Polly das Unfassbare beibringen sollte. Und schon gar nicht hatte sie darüber nachgedacht, was dieser barbarische Akt der Amputation für Polly bedeuten würde. Cecilias Gedanken kreisten einzig darum, was es für sie bedeutete, wie sie das alles verkraften könnte, denn das alles fühlte sich so an, als hätte man an ihr, an Cecilia , ein grausames Verbrechen begangen. Das war der Preis für ihre heimliche Freude und ihren überbordenden Stolz, den sie beim Anblick ihrer wohlgestalteten Kinder stets erfüllt hatte.
Wie mochte er jetzt aussehen, Pollys Arm, unter dem dicken Verband? Wir können dieses Körperglied nicht retten . Dr. Yue hatte ihr versichert, dass sie Pollys Schmerzen unter Kontrolle hatten.
Cecilia brauchte einen Augenblick, um zu merken, dass Rachel zusammensackte, dass ihr die Knie zitterten und die Beine weich wurden. Sie fing sie gerade noch auf, packte sie unter den Armen und bekam ihr volles Körpergewicht zu spüren. Rachels Körper fühlte sich überraschend substanzlos an. Dennoch war es schwierig, ihn einigermaßen aufrecht zu halten, als hätte man ihr ein großes, sperriges Paket in die Hand gedrückt.
Ein Mann kam vorbei; in der Hand hielt er einen riesigen Strauß rosa Nelken. Er klemmte sich den Blumenstrauß kurzerhand unter den Arm und half Cecilia, Rachel auf den nächstbesten Stuhl zu setzen.
»Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte er. »Sollte kein Problem sein. Ist der richtige Ort dafür.«
Rachel schüttelte entschieden den Kopf. Sie war blass und zittrig. »Mir ist nur schwindlig.«
Cecilia kniete sich neben sie und warf dem Mann ein höfliches Lächeln zu. »Danke für Ihre Hilfe.«
»Keine Ursache. Ich muss weiter. Meine Frau hat heute unser erstes Kind bekommen. Drei Stunden alt. Ein kleines Mädchen.«
»Glückwunsch!«, sagte Cecilia einen kleinen Tick zu spät, denn der Mann war bereits weitergegangen; er zog am glücklichsten Tag seines Lebens freudig davon.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, vergewisserte sich Cecilia.
»Tut mir leid.«
»Du kannst nichts dafür. Es ist nicht deine Schuld«, sagte Cecilia und spürte eine Spur von Ungeduld. Sie hatte die Intensivstation verlassen, um ein wenig frische Luft zu schnappen, um sich zu fassen, doch jetzt musste sie wieder zurück. Sie musste die Fakten sammeln. Sie brauchte keinen verdammten psychologischen Beistand, nein danke, sie brauchte noch einmal Dr. Yue, und dieses Mal würde sie sich vorher Notizen machen, Fragen stellen und sich nicht darum scheren, ob sie freundlich genug auftrat.
»Versteh doch!«, bat Rachel. Sie fixierte Cecilia mit geröteten, wässrigen Augen. Ihre Stimme war hoch und matt. »Es ist meine Schuld. Ich habe Vollgas gegeben. Ich habe versucht, ihn zu töten, weil er Janie getötet hat.«
Cecilia klammerte sich an Rachels Stuhl, als stünde sie am Rand eines Abgrunds.
»Du hast versucht, John-Paul zu töten?«
»Natürlich nicht. Ich habe versucht, Connor Whitby zu töten. Er hat Janie ermordet. Ich habe doch dieses Video gefunden, den Beweis.«
Es war, als hätte jemand Cecilia an den Schultern gepackt, sie herumgewirbelt und dann gezwungen, sich dem Anblick einer Gräueltat zu stellen.
Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das Bild fügte sich zusammen.
Was John-Paul getan hatte.
Was Rachel getan hatte.
Die gemeinsame Verantwortung für ihre Tochter, ihre und John-Pauls. Die Strafe, die sie für dieses Verbrechen bezahlen müssten.
Ihr ganzer Körper fühlte sich hohl an, ausgehöhlt vom grellweißen Licht einer Atombombe. Sie war nur noch eine Hülle ihrer selbst. Doch sie zitterte nicht. Ihre Beine wurden nicht weich. Sie stand vollkommen still.
Nichts war jetzt noch wirklich wichtig. Nichts könnte schlimmer sein als das.
Was jetzt zählte, war die ganze, ungeschminkte Wahrheit. Doch sie würde Polly nicht retten; sie würde sie alle nicht erlösen. Aber es war absolut notwendig. Es war die vordringlichste Aufgabe überhaupt, die Cecilia genau jetzt, in diesem Moment , von ihrer Liste streichen musste.
»Connor hat Janie nicht getötet«, sagte Cecilia. Sie spürte, wie ihr Kiefer sich hin und her schob, während sie sprach. Sie war eine Marionette aus Holz.
Rachel wurde ganz still. Der
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