Die Wahrheit eines Augenblicks
schließlich war er Asiat und trug eine Brille, wie Cecilia klischeehaft dachte. Doch das war ihr in diesem Moment völlig egal. Sie hoffte nur inständig, dass Dr. Yues Mutter ihn ständig und unnachgiebig auf Wissen und Leistung getrimmt hatte. Sie hoffte, dass der arme Dr. Yue neben der Medizin keine anderen Interessen hatte. Sie liebte Dr. Yue. Sie liebte seine Mutter.
Aber verflucht noch mal, John-Paul! John-Paul schien nicht zu begreifen, dass sie gerade mit Gott höchstpersönlich sprachen. Ständig fiel er Dr. Yue ins Wort, klang viel zu unhöflich und schroff. Ungezogen fast! Wenn John-Paul ihn nun beleidigte, dann ging das womöglich nach hinten los, und Dr. Yue würde nicht mehr alles versuchen, um Polly zu retten. Für Dr. Yue war das hier bloß ein Job, das war Cecilia klar. Für ihn war Polly nur eine weitere Patientin und John-Paul und sie, Cecilia, bloß ein weiteres aufgelöstes, verzweifeltes Elternpaar. Und Cecilia war auch klar, dass Ärzte bis zur Erschöpfung arbeiten, dass sie winzige Fehler machen, die schnell zur Katastrophe führen (wie bei Flugpiloten auch). Cecilia und John-Paul mussten sich also in irgendeiner Weise von all den anderen abheben. Sie mussten ihn dazu bringen, dass er in Polly nicht bloß eine weitere Patientin sah, sondern Polly , Cecilias geliebtes Mädchen, ihren lustigen, bezaubernden kleinen Wildfang. Cecilia atmete tief durch und bekam einen Moment gar keine Luft.
Dr. Yue tätschelte ihren Arm. »Das alles ist unglaublich anstrengend für Sie, Mrs. Fitzpatrick, ich weiß, und Sie haben eine lange Nacht ohne Schlaf hinter sich.«
John-Paul drehte den Kopf zur Seite und sah sie an, als hätte er vergessen, dass sie auch da war. Er nahm ihre Hand. »Sprechen Sie weiter, bitte!«
Cecilia lächelte Dr. Yue um Entschuldigung bittend an. »Es geht schon wieder, danke«, sagte sie. Schau, wie überaus freundlich und anspruchslos wir sind!
Dr. Yue zählte ihnen Pollys Verletzungen auf: eine schwere Gehirnerschütterung, die Computertomografie hatte aber keine Anzeichen auf eine ernste Gehirnverletzung gezeigt. Der rosa Glitzerhelm hatte seine Funktion erfüllt. »Wie Sie bereits wissen«, so fuhr Dr. Yue fort, »bereiten uns die inneren Blutungen Sorge, aber sie werden rund um die Uhr überwacht und sind soweit im grünen Bereich. Außerdem hat Ihre Tochter schlimme Hautabschürfungen, ein gebrochenes Schienbein und eine Milzruptur davongetragen.« Die Milz habe man ihr bereits entfernt. Viele Menschen lebten ohne Milz. Da die Gefahr einer verringerten Immunabwehr bestehe, sei die Einnahme von Antibiotika geboten, im Falle …
»Was ist mit ihrem Arm?« John-Paul unterbrach ihn. »Die Hauptsorge schien die ganze Nacht ihrem rechten Arm zu gelten.«
»Ja.« Dr. Yue sah Cecilia mit festem Blick an. Er atmete hörbar ein und aus, als wäre er ein Yogalehrer, der eine Atemtechnik demonstriert. »Es tut mir sehr leid, Ihnen sagen zu müssen, dass wir dieses Körperglied nicht retten können.«
»Wie bitte?«, sagte Cecilia.
»Oh, mein Gott!«, entfuhr es John-Paul.
»Verzeihung …« Cecilia versuchte nach wie vor, ihre Freundlichkeit zu wahren, fühlte jedoch, wie der Zorn in ihr hochkochte. »Was meinen Sie mit nicht retten können ?«
Es klang, als läge Pollys Arm auf dem Grund des Ozeans.
»Sie hat irreparable Gewebeschäden, eine doppelte Fraktur, und die Blutversorgung ist nicht länger gewährleistet. Wir würden den Eingriff gern heute Nachmittag vornehmen.«
»Eingriff?«, wiederholte Cecilia. »Mit Eingriff meinen Sie …«
Das Wort kam nicht über ihre Lippen. Es war unaussprechlich.
»Amputation«, sagte Dr. Yue. »Knapp oberhalb des Ellbogens. Ich weiß, dass sind schreckliche Neuigkeiten für Sie. Ich habe bereits veranlasst, dass jemand kommt und Sie betreut …«
»Nein«, sagte Cecilia entschieden. Nein, das würde sie nicht dulden. Sie wusste zwar nicht, wozu man eine Milz brauchte, aber wozu man einen rechten Arm brauchte, das wusste sie allemal. »Sie ist Rechtshänderin, Herr Doktor Yue, verstehen Sie doch! Sie ist sechs Jahre alt. Sie kann nicht ohne ihren Arm leben!« Ihre Stimme glitt ab in eine hässliche, mütterliche Hysterie, die sie ihm so gern erspart hätte.
Wieso sagte John-Paul denn nichts? Wo blieben seine schroffen Worte? Er hatte sich von Dr. Yue abgewandt und schaute durch die Glaswand zu Polly hinüber.
»Doch, das kann sie, Mrs. Fitzpatrick«, erwiderte Dr. Yue. »Es tut mir überaus leid. Aber sie schafft
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