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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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dem Nichts.
    Kein Auto. Auto.
    Das kleine, blaue Auto schoss heran wie ein Blitz. Es schien nicht zu stoppen zu sein.
    Cecilia sah Connor Whitby wie wild losrennen. Wie ein Mann in einer Fluchtszene in einem Film, der von einem Gebäude auf das nächste springt.
    Eine Sekunde später schoss Polly auf ihrem Rad direkt vor das Auto und war darunter verschwunden.
    Die Geräusche waren verhalten. Ein dumpfer Schlag. Ein Krachen. Bremsen quietschen.
    Und dann war es still. Ganz einfach still. Irgendwo zwitscherte ein Vogel.
    Cecilia fühlte nichts. Nur Verwirrung. Bestürzung. Was war passiert?
    Sie hörte schwere Schritte, drehte sich um und sah John-Paul losrennen. Er rannte geradewegs an ihr vorbei. Esther schrie wie am Spieß. Immer lauter und lauter. Ein schreckliches, hässliches Geräusch. Cecilia dachte nur: Hör auf, Esther !
    Isabel packte den Arm ihrer Mutter. »Das Auto hat sie erwischt!«
    In Cecilias Brust brach ein Abgrund auf.
    Sie schüttelte Isabels Hand ab und rannte los.
    Ein kleines Mädchen. Ein kleines Mädchen auf einem Fahrrad.
    Rachels Hände hielten das Lenkrad noch immer umklammert. Ihr Fuß drückte noch immer fest auf das Bremspedal, drückte es durch, so weit es ging.
    Langsam, mühevoll hob sie eine zitternde Hand vom Lenkrad und zog die Handbremse an. Dann stellte sie den Motor ab und nahm vorsichtig den Fuß vom Bremspedal.
    Sie sah in den Rückspiegel. Vielleicht war dem kleinen Mädchen nichts passiert.
    (Doch, sie hatte es gespürt. Ein weiches Hindernis unter den Rädern. Sie wusste mit absoluter Gewissheit, was sie getan hatte. Was sie vorsätzlich getan hatte.)
    Sie konnte eine Frau sehen, die rannte. Ihre Arme baumelten seltsam an ihrem Körper, als wäre sie paralysiert. Es war Cecilia Fitzpatrick.
    Das kleine Mädchen. Der rosa Glitzerhelm. Der Pferdeschwanz. Bremsen. Bremsen. Bremsen . Das Gesicht im Profil. Das Mädchen war Polly Fitzpatrick. Die hübsche, kleine Polly Fitzpatrick.
    Rachel wimmerte wie ein verletztes Tier. Irgendwo in der Ferne schrie jemand und schrie und schrie.
    Liam fragte in einem fort, wann sein Daddy endlich kommen würde. Und Tess wurde langsam richtig wütend, da sie die passive Rolle hatte, darauf zu warten, dass Will seinen angekündigten Auftritt hatte. Sie würde ihn auf dem Handy anrufen. Sie würde eiskalt sein, beherrscht und ihm eine erste Andeutung geben von der übermächtigen Aufgabe, die vor ihm lag.
    »Hallo?«
    »Will?«
    »Tess«, sagte er. Er klang seltsam abgelenkt.
    »Laut Felicity bist du auf dem Weg hierher …«
    »Bin ich«, fiel ihr Will ins Wort. »War ich. Ich sitze im Taxi. Wir mussten anhalten. Es hat einen Unfall gegeben, ganz in der Nähe des Hauses deiner Mutter. Ich habe gesehen, wie es passiert ist. Wir warten auf den Krankenwagen.« Seine Stimme brach ab und klang dumpf, als er weitersprach. »Es ist schrecklich, Tess. Ein kleines Mädchen auf einem Fahrrad. Ungefähr so alt wie Liam. Ich glaube, sie ist tot.«

52
    Ostersamstag
    Der Arzt erinnerte Cecilia an einen Pfarrer oder einen Politiker. Er war spezialisiert auf professionelles Mitgefühl. Seine Augen blickten warm und teilnahmsvoll. Er sprach langsam und deutlich, autoritär und geduldig, als wären Cecilia und John-Paul seine Studenten, als müsste er ihnen einen komplizierten Sachverhalt begreiflich machen. Cecilia musste an sich halten, um sich ihm nicht vor die Füße zu werfen und seine Knie zu umklammern. Für sie hatte dieser Mann die absolute Macht. Er war Gott. Dieser Mann, dieser taktvolle, bebrillte Asiat im blau-weiß gestreiften Hemd (das ähnlich aussah wie eines von John-Pauls Hemden) war Gott.
    Den ganzen letzten Tag und die ganze letzte Nacht hatten so viele Menschen mit ihnen gesprochen: Rettungssanitäter, Ärzte, Krankenschwestern. Jeder Einzelne war freundlich, aber auch gehetzt und müde gewesen. Ringsum Lärm und grelle, weiße Lichter. Aber nun sprachen sie mit Dr. Yue in der gedämpften, sterilen Atmosphäre der Intensivstation. Sie standen außerhalb des mit einer Glaswand versehenen Zimmers, in dem Polly auf einem hohen, schmalen Bett lag und an eine ganze Reihe von Apparaten angeschlossen war. Sie stand unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel. In ihren linken Arm hatte man eine Tropfinfusion gelegt. Und ihr rechter Arm war dick mit Kompressen umwickelt. Eine der Krankenschwestern hatte ihr die Haare aus der Stirn gestrichen und seitlich festgesteckt, sodass sie irgendwie fremd aussah.
    Dr. Yue war sicher hochintelligent,

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