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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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heranzog und sich setzte. Sie neigte sich zu Rachel herüber und spannte das ganze Gesicht dermaßen an, dass es aussah wie eine leidende Fratze.
    Janie hatte John-Paul erzählt, dass es noch einen anderen Jungen gab. Also war dieser andere Junge Connor Whitby.
    Janie hatte also zwei Verehrer, und Rachel hatte davon absolut nichts mitbekommen. Wo genau hatte sie als Mutter versagt, dass sie so wenig vom Leben ihrer Tochter wusste? Warum hatten sie nicht nachmittags nach der Schule bei Kakao und Keksen zusammengesessen und Vertraulichkeiten ausgetauscht, so wie das die Mütter in den amerikanischen Sitcoms machten? Gebacken hatte Rachel nur ungern. Janie aß zum Nachmittagstee immer gebutterte Kekse. Hätte ich doch nur für Janie gebacken!, dachte sie in einem plötzlichen Ausbruch schonungsloser Selbstverachtung. Wieso hatte sie nicht gebacken? Hätte sie gebacken, und hätte Ed Janie fröhlich im Kreis herumgewirbelt, dann wäre alles möglicherweise anders gekommen.
    »Cecilia?«
    Beide Frauen sahen auf. John-Paul hatte die Intensivstation verlassen.
    »Cecilia. Wir müssen ein paar Formulare unterschreiben …« Er hielt inne, als er Rachel erblickte. »Hallo, Mrs. Crowley«, sagte er.
    »Hallo«, antwortete Rachel.
    Sie konnte sich nicht bewegen. Sie war wie betäubt. Vor ihr stand der Mörder ihrer Tochter. Ein erschöpfter, verzweifelter Vater mittleren Alters mit rot geränderten Augen und grauen Bartstoppeln. Nein. Unmöglich. Er hatte nichts mit Janie zu tun gehabt. Er war viel zu alt. Viel zu erwachsen.
    Cecilia wandte sich an ihren Mann. »Ich habe es ihr gesagt, John-Paul.«
    Er wich einen Schritt zurück, als hätte jemand versucht, ihn zu schlagen.
    Ganz kurz schloss er die Augen, öffnete sie wieder und lenkte seinen Blick auf Rachel. Aus seinen Augen sprach bittere Reue, und Rachel hatte keinen Grund mehr zu zweifeln.
    »Aber warum?«, fragte sie nur und war erstaunt, wie ruhig und normal sie dabei klang, am helllichten Tag die Ermordung ihrer Tochter zu erörtern, während Dutzende von Leuten vorbeiliefen, sie ignorierten und ein ganz banales Gespräch vermuteten. »Können Sie mir bitte sagen, warum Sie das gemacht haben? Sie war doch noch ein kleines Mädchen.«
    John-Paul senkte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch sein schönes, ordentliches Haar. Und als er wieder aufsah, schien sein Gesicht in tausend Stücke zerbrochen zu sein. »Es war ein Unfall, Mrs. Crowley. Ich wollte ihr niemals wehtun, weil … Sehen Sie, ich habe sie geliebt. Ich habe sie wirklich geliebt.« In einer hoffnungslosen Geste wischte er sich mit dem Handrücken über die Nase. »Ich war ein dummer Teenager. Sie erzählte mir, sie sei mit einem anderen zusammen, und dann lachte sie mich aus. Es tut mir so leid, doch das ist der einzige Grund, den ich Ihnen nennen kann. Und auch das ist kein Grund, ich weiß. Ich habe sie geliebt, und sie hat mich verlacht.«
    Cecilia war sich vage bewusst, dass Menschen über den Korridor an ihnen vorbeigingen. Sie eilten vorbei, schlenderten vorbei, gestikulierten, lachten oder sprachen angeregt in ihre Handys. Keiner nahm Notiz von der weißhaarigen Frau, die aufrecht in ihrem braunen Lederstuhl saß, sich seitlich mit den knorrigen Händen an den Armstützen festhielt und die Augen unverwandt auf den Mann gerichtet hielt, der mit gesenktem Kopf und tief zerknirscht, mit entblößtem Nacken und hängenden Schultern vor ihr stand. Keiner schien irgendetwas Außergewöhnliches an ihren starren Körpern und dem Schweigen zwischen ihnen zu finden. Sie waren in ihrer eigenen Blase gefangen, abgetrennt vom Rest der Menschheit.
    Cecilia fühlte das kühle, weiche Leder unter ihren Händen, und plötzlich entfuhr ein tiefer Luftstoß ihrer Lunge. »Ich muss zurück zu Polly«, sagte sie und stand so schnell auf, dass ihr schwindlig wurde.
    Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange war sie hier draußen auf dem Flur gewesen? Sie hatte das panikartige Gefühl, Polly im Stich gelassen zu haben. Cecilia sah Rachel an und dachte: Ich kann mich jetzt nicht weiter um dich kümmern .
    »Rachel, ich muss noch einmal mit Pollys Arzt sprechen«, erklärte sie.
    »Natürlich, das verstehe ich«, sagte Rachel.
    John-Paul streckte ihr die flachen Hände entgegen, die Handgelenke überkreuz, als würde er darauf warten, dass sie ihm Handschellen umlegte. »Ich weiß, ich habe nicht das geringste Recht, Sie um etwas zu bitten, Rachel … Mrs. Crowley. Ich habe nicht das geringste Recht, Sie

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