Die Wahrheit eines Augenblicks
musste, so wie die Wäsche. Was die Leute heute bloß für einen Wirbel ums Kochen machten!
»Schon okay.« Lauren strahlte. »Wir werden in New York öfter auswärts essen. Die Stadt schläft ja bekanntlich nie!«
»Aber Jacob muss natürlich abends schlafen«, sagte Rachel. »Oder füttert ihn das Kindermädchen, während ihr auswärts essen geht?«
Laurens Lächeln wurde leicht unsicher, und ihr Blick wanderte zu Rob, was der allerdings nicht bemerkte.
Der Fernseher wurde plötzlich lauter, und es dröhnte wie im Kino. Eine männliche Stimme rief: »Es gibt nichts umsonst!«
Rachel erkannte die Stimme. Sie gehörte dem Trainer von The Biggest Loser . Sie mochte diese Sendung. Sie fand es wohltuend, in diese leuchtend bunte Plastikwelt abzutauchen, wo es nur darauf ankam, wie viel man aß und wie viel man trainierte, wo die einzige Tragödie, die es unter höchsten Schmerzen und Leiden zu durchleben galt, ein paar Liegestützen waren, wo man sich intensiv über Kalorien unterhielt und über jedes abgespeckte Kilo vor Freude weinte. Und danach lebten alle glücklich und spindeldürr weiter.
»Spielst du schon wieder mit der Fernbedienung, Jake?«, rief Rob in den Lärm aus dem Fernseher hinein. Er stand auf und ging ins Wohnzimmer.
Es war immer er, der zuerst aufstand, um nach Jacob zu sehen. Nie Lauren. Von Anfang an war das so gewesen, auch beim Windelwechseln. Ed hatte nie im Leben auch nur eine Windel gewechselt. Klar, heutzutage war das für Daddys selbstverständlich. Und es machte ihnen wahrscheinlich auch gar nichts aus. Wahrscheinlich war nur sie es, Rachel, die sich komisch dabei fühlte, beschämt fast, als verhielten die beiden sich unangemessen. Und wahrscheinlich würden die jungen Mädchen heute aufschreien, wenn sie eine Lanze für die alten Zeiten brechen würde!
»Rachel …«, sagte Lauren.
Sie bemerkte, wie ihre Schwiegertochter sie nervös ansah, so, als hätte sie ein kleines Attentat auf sie vor. Aber natürlich, Lauren. Natürlich werde ich Jacob zu mir nehmen, während ihr in New York weilt. Für zwei Jahre? Gar kein Problem. Geht nur! Alles Gute!
»Am kommenden Freitag«, sagte Lauren, »Karfreitag … Ich weiß, das ist, hm, der Jahrestag …«
Rachel erstarrte. »Ja«, erwiderte sie betont kühl. »Ja, ist es.« Sie hatte kein Verlangen, über diesen Freitag zu sprechen, schon gar nicht mit Lauren. Ihr Körper sagte ihr seit Wochen schon, dass dieser Freitag vor der Tür stand. Das passierte ihr jedes Jahr, wenn der Sommer sich zu verabschieden begann und sie fühlte, wie die Luft langsam frischer wurde. Dann spürte sie Verspannungen in den Muskeln, ein leichtes kribbelndes Gefühl des Grauens, und dann fiel es ihr wieder ein: Natürlich. Es wird wieder Herbst. Schade! Dabei hatte sie den Herbst einmal sehr geliebt .
»Ich verstehe, dass du in den Park willst«, sagte Lauren, als besprächen sie den Veranstaltungsort für eine anstehende Cocktailparty. »Ich habe mich nur gefragt, ob …«
Rachel wollte nichts hören. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir nicht darüber sprechen? Ein andermal.«
»Sicher!« Lauren wurde rot, und sofort hatte Rachel ein schlechtes Gewissen. Sie sprach das Thema selten an. Es war so leicht, anderen damit die Laune zu verderben.
»Ich brühe uns noch einen Tee auf«, erklärte sie und begann, die Teller aufeinanderzustapeln.
»Ich helfe dir.« Lauren schickte sich an aufzustehen.
»Lass nur«, sagte Rachel.
»Wenn du meinst.« Lauren steckte sich eine goldblonde Locke hinter das Ohr. Sie war ein hübsches Mädchen. Das erste Mal, als Rob sie mit nach Hause gebracht hatte, damit Rachel sie kennenlernte, hatte er seinen Stolz kaum verbergen können. So wie früher, wenn er mit einem rosigen Gesichtchen und einem neu gemalten Bild aus dem Kindergarten nach Hause gekommen war.
Bei allem, was ihrer Familie 1984 widerfahren war, hätte Rachel ihren Sohn eigentlich umso mehr lieben müssen. Aber dem war nicht so. Es war eher so, als hätte sie ihre Fähigkeit zu lieben verloren. Bis Jacob geboren wurde. Bis dahin hatten sie und Rob eine Beziehung entwickelt, die perfekt harmonierte, aber dennoch anders war – wie Diätschokolade; sobald man davon kostete, wusste man, dass sie nur ein trauriger Ersatz war. Rob hatte also jedes Recht, ihr Jacob wegzunehmen. Sie hatte es nicht anders verdient, weil sie ihn nicht genug liebte. Und das war die gerechte Strafe dafür. Bete zweihundert Gegrüßet-seist-du-Maria und dein Enkel geht nach New
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