Die Wahrheit eines Augenblicks
Chance. Du isst zu viel rotes Fleisch. Ich wette, du hast gerade ein Stück Schinken auf dem Teller.«
»Und ich wette, du fütterst die armen Mädchen heute Abend mit Fisch, stimmt’s?« Er scherzte, klang aber noch immer ernst und angespannt.
»Ist das Daddy?« Polly kam ins Zimmer gehopst. »Ich muss ihn dringend sprechen!«
»Hier kommt Polly«, sagte Cecilia, während ihre Tochter versuchte, ihr das tragbare Telefon vom Ohr zu reißen. »Polly, hör auf! Gleich. Wir reden morgen weiter. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, hörte sie ihn noch sagen, da hatte Polly sich auch schon das Telefon geschnappt und zischte ab. »Daddy, hör mal, ich muss dir etwas erzählen, das ist aber ein riesengroßes Geheimnis .«
Polly liebte Geheimnisse. Sie hatte andauernd irgendwelche Geheimnisse zu erzählen, weihte immer irgendjemanden darin ein. Das machte sie so, seit sie zwei Jahre alt war, seit sie wusste, dass es Geheimnisse gab.
»Lass deine Schwestern auch mit ihm sprechen!«, rief Cecilia ihr hinterher.
Sie nahm ihre Tasse Tee und legte den Brief auf den Tisch, sodass er in einer Linie mit der Tischkante abschloss. Damit hat sich die Sache also. Kein Grund zur Sorge. Sie würde ihn abheften und das Ganze vergessen.
Gut, der Brief hatte John-Paul verlegen gemacht. Aber das war auch schon alles. Süß.
Natürlich konnte sie ihn jetzt, da sie es versprochen hatte, erst recht nicht mehr öffnen. Es wäre besser gewesen, den Brief gar nicht zu erwähnen. Also Tee austrinken und weitermachen.
Sie griff nach Esthers Buch über die Berliner Mauer, das auf dem Tisch lag, und zog es zu sich her, blätterte durch die Seiten und stockte bei einem Foto, das einen jungen Mann mit einem engelsgleichen, ernsten Gesicht zeigte und sie ein klein bisschen an John-Paul erinnerte, der als junger Mann ähnlich ausgesehen hatte, damals, als sie sich in ihn verliebt hatte. John-Paul hatte immer großen Wert auf sein Haar gelegt und jede Menge Haargel benutzt, um es in Form zu bringen, und er war hinreißend ernst gewesen, sogar wenn er betrunken gewesen war (ja, sie waren öfter betrunken gewesen, damals). Sein Ernst vermittelte Cecilia nicht selten das Gefühl, albern und kindisch zu sein. Sie waren schon Jahre zusammen, bevor er eine leichtere Seite zeigte.
Der junge Mann auf dem Foto, so las sie, hieß Peter Fechter, ein achtzehnjähriger Maurer, der einer der ersten Menschen gewesen war, die beim Fluchtversuch an der Berliner Mauer getötet worden waren. Er erlitt einen Beckenschuss und fiel zurück in den »Todesstreifen« auf der Ostseite, wo er eine Stunde liegen blieb, bis er verblutet war. Hunderte von Menschen auf beiden Seiten wurden Augenzeugen dieses Vorfalls, keiner jedoch bot ihm medizinische Hilfe an, wobei einige ihm Verbandmaterial zuwarfen.
»Um Himmels willen«, murmelte Cecilia verärgert vor sich hin und legte das Buch weg. Und das sollte Esther lesen und erfahren, dass solche Dinge möglich waren?
Cecilia hätte dem jungen Mann geholfen. Sie wäre geradewegs zu ihm hinmarschiert. Hätte einen Krankenwagen gerufen. Hätte die Leute angeschrien: »Was ist los mit euch?«
Wer weiß, was sie wirklich getan hätte. Wahrscheinlich nichts. Immerhin bestand das Risiko, selbst erschossen zu werden. Sie war Mutter. Sie musste am Leben bleiben. Todeszonen kamen in ihrem Leben nicht vor. Parkzonen. Naturzonen. Einkaufszonen. Das ja. Sie wurde noch nie auf die Probe gestellt. Und würde es wohl auch nie werden.
»Polly! Du redest schon seit Stunden mit ihm! Daddy ist wahrscheinlich schon gelangweilt!«, brüllte Isabel.
Warum mussten sie immer so schreien? Die Mädchen vermissten ihren Vater, wenn er verreist war. Er hatte mehr Geduld mit ihnen als Cecilia, und seit sie klein waren, war er bereit, an den vielen alltäglichen Dingen in ihrem Leben teilzunehmen, wozu Cecilia schlicht keine Lust hatte. Mit Polly spielte er endlos Kinderteeparty, hielt mit ausgestrecktem, kleinem Finger winzige Kinderteetassen. Isabel hörte er aufmerksam zu, wenn sie stundenlang von den neuesten Dramen mit ihren Freundinnen erzählte. Wenn John-Paul nach Hause kam, war es für alle immer ein Segen. »Nimm mir die süßen Kleinen ab!«, rief Cecilia dann, was er prompt machte. Er fuhr mit ihnen raus, unternahm alles Mögliche mit ihnen und kehrte erst Stunden später wieder mit ihnen zurück, gerade dann, wenn Cecilia sie langsam zu vermissen begann.
»Nein, Daddy ist nicht von mir gelangweilt!«, schrie Polly zurück.
»Gib das
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