Die Wahrheit eines Augenblicks
bezeichnet. Montags und freitags hütete sie Jacob, der an den anderen Tagen in der Betreuung war, wenn Lauren in der Stadt an ihrem Schreibtisch saß und Projekte managte und Rachel in der St.-Angela-Schule als Schulsekretärin arbeitete. Sie hatte ihre Arbeit, ihren Garten, ihre Freundin Marla, ihren Stapel Bücher aus der Bibliothek und zwei kostbare Tage die Woche mit ihrem Enkelsohn. Auch an den Wochenenden übernachtete Jacob öfter mal bei ihr, damit Rob und Lauren ausgehen konnten. Die beiden liebten es auszugehen – in ihre schicken Restaurants, ins Theater und in die Oper (jawohl, in die Oper !). Ed hätte darüber nur laut gelacht. Ist mein Sohn eine Schwuchtel oder was?
Wenn man sie gefragt hätte: »Bist du glücklich?«, hätte sie geantwortet: »Ja, überglücklich.«
Sie hatte keine Ahnung gehabt, welch wackeliges Konstrukt ihr Leben war, wackelig wie ein Kartenhaus. Rob und Lauren konnten jederzeit hereinspazieren und sich fröhlich die Karte ziehen, die ihnen gerade gefiel. Aber nicht die Jacob-Karte! Denn mit der Jacob-Karte brach ihr Leben zusammen, und das ganze Konstrukt glitt sanft zu Boden.
Rachel drückte ihre Lippen an Jacobs Kopf und hatte augenblicklich Tränen in den Augen.
Das ist nicht fair! Nicht fair! Nicht fair!
»Zwei Jahre sind so schnell vorbei«, sagte Lauren und schaute Rachel an.
»Wie im Flug!« Rob schnippte mit den Fingern.
Für euch vielleicht , dachte Rachel bei sich.
»Oder vielleicht bleiben wir gar nicht die vollen zwei Jahre«, meinte Lauren.
»Oder aber ihr bleibt für immer!«, sagte Rachel mit einem strahlenden Lächeln, um zu zeigen, dass sie eine Frau von Welt war und wusste, wie das Leben so spielen kann.
Sie dachte an die Russell-Zwillinge, Lucy und Mary, und deren Töchter, die alle nach Melbourne gezogen waren. »Die werden dort bleiben«, hatte Lucy eines Sonntags nach dem Gottesdienst traurig zu Rachel gesagt. Das war Jahre her, aber es war ihr in Erinnerung geblieben, denn Lucy hatte recht behalten. Das Letzte, was Rachel gehört hatte, war, dass die beiden Cousinen (Lucys schüchternes kleines Mädchen und Marys mollige Tochter mit den wunderschönen Augen) bis heute und offenbar endgültig in Melbourne lebten.
Doch Melbourne war einen Katzensprung entfernt. Man konnte für einen Tag hinfliegen, wenn man wollte. Lucy und Mary machten das ständig. Für einen Tag nach New York zu fliegen ging dagegen nicht.
Und dann gab es Leute wie Virginia Fitzpatrick, die sich die Stelle der Schulsekretärin mit Rachel teilte (sie arbeiteten beide Teilzeit, wie man so schön sagt). Virginia hatte sechs Söhne und vierzehn Enkelkinder, und die meisten von ihnen lebten in einem Radius von zwanzig Minuten Entfernung im Norden von Sydney. Wenn eines von Virginias Kindern beschließen würde, nach New York zu ziehen, würde sie das wahrscheinlich nicht einmal bemerken; es blieben ja noch so viele andere Enkel übrig.
Rachel hätte mehr eigene Kinder haben sollen. Sie hätte eine brave katholische Hausfrau und Mutter sein sollen mit mindestens sechs Kindern. Aber nein, das war sie nie gewesen, dazu war sie viel zu eitel gewesen, denn insgeheim hatte sie gedacht, sie sei etwas Besonderes – anders als all die anderen Frauen. Gott allein wusste, wie besonders sie dachte zu sein. Es war nicht so, dass sie eine besondere Karrierelaufbahn angestrebt hätte oder große Reisen oder sonst irgendetwas, was die jungen Mädchen heute so machten.
»Wann reist ihr denn ab?«, fragte sie, als Jacob plötzlich von ihrem Schoß rutschte und ins Wohnzimmer davonsprang. Kurz darauf hörte sie den Fernseher. Der clevere, kleine Schatz hatte herausgefunden, wie die Fernbedienung funktioniert.
»Nicht vor Neujahr«, sagte Lauren. »Wir haben noch jede Menge zu erledigen. Visa beantragen und so weiter. Wir müssen auch noch eine Wohnung und ein Kindermädchen für Jacob finden.«
Ein Kindermädchen für Jacob.
»Und einen Job für mich.« Rob klang ein wenig nervös.
»Oh, ja, natürlich, mein Liebling«, sagte Rachel. Sie versuchte, ihren Sohn ernst zu nehmen. »Einen Job für dich. Im Immobilienbereich, meinst du?«
»Bin noch nicht sicher«, antwortete er. »Mal sehen. Vielleicht werde ich auch Hausmann.«
»Tut mir leid, aber das Kochen habe ich ihm nie beigebracht«, sagte Rachel zu Lauren, obwohl es ihr nicht besonders leidtat. Rachel hatte sich nie groß für das Kochen interessiert und war auch nicht gut darin; es war nur eine weitere Hausarbeit, die erledigt werden
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