Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
Vom Netzwerk:
York. Alles hatte seinen Preis, und Rachel musste ihn stets in voller Höhe entrichten. Es gab für sie keinen Rabatt. Genauso, wie sie für ihren Fehler von 1984 bezahlen musste.
    Rob alberte mit Jacob herum, brachte ihn zum Kichern und Lachen. Er veranstaltete kleine Ringkämpfe mit ihm, packte ihn an den Fesseln und ließ ihn kopfüber hängen, so wie Ed es immer mit ihm gemacht hatte.
    »Hier kommt das … KITZELMONSTER !«, rief Rob.
    Jacobs fröhliches Lachen hallte zu ihnen herüber wie ein mitreißender Strudel und steckte Rachel und Lauren an. Sie mussten beide unweigerlich mitlachen, als würden sie selbst gekitzelt. Ihre Blicke trafen sich über dem Tisch, und sogleich wandelte sich Rachels Lachen in ein Schluchzen.
    »Oh, Rachel .« Lauren erhob sich halb von ihrem Sitz und streckte eine perfekt manikürte Hand zu ihr herüber. (Jeden dritten Samstag ging Lauren zur Maniküre, Pediküre und Massage. Sie nannte das ihre »Lauren-Zeit«. Rob brachte dann Jacob zu Rachel, und sie spazierten zusammen zum Stadtpark an der Ecke und aßen Eierbrötchen.) »Es tut mir so leid, ich weiß, wie sehr du Jacob vermissen wirst, aber …«
    Rachel atmete tief und zittrig durch und riss sich mit aller Macht zusammen, als hievte sie sich angestrengt über einen Klippenrand nach oben.
    »Ach, Unsinn«, sagte sie so scharf, dass Lauren zusammenzuckte und sich zurück auf ihren Stuhl fallen ließ. »Ist schon gut. Für euch alle ist das eine wunderbare Chance.«
    Sie begann, die Dessertteller aufeinanderzustapeln, und kratzte dabei die Apfelstrudelreste zu einem unansehnlichen, matschigen Häufchen zusammen.
    »Übrigens«, sagte sie, bevor sie aus dem Zimmer ging. »Ihr müsst dem Kind mal die Haare schneiden lassen.«

4
    »John-Paul? Bist du noch da?« Cecilia presste den Hörer so fest an ihr Ohr, dass es schmerzte.
    »Hast du ihn aufgemacht?« Schließlich hatte er die Sprache wiedergefunden. Seine Stimme war dünn und nasal; er klang wie ein mürrischer, alter Mann.
    »Nein«, sagte Cecilia. »Du bist ja nicht tot, also dachte ich, ich öffne ihn besser nicht.« Sie versuchte, locker zu klingen, aber ihre Stimme klang schrill, als nörgelte sie an ihm herum.
    Wieder war es still in der Leitung. Sie hörte jemanden mit einem amerikanischen Akzent rufen: »Sir! Da lang, Sir!«
    »Hallo?«, sagte Cecilia.
    »Könntest du ihn bitte zu lassen? Würde dir das etwas ausmachen? Ich habe ihn vor langer Zeit geschrieben, als Isabel noch ein Baby war, glaube ich. Ist mir irgendwie peinlich. Dachte eigentlich, er wäre verloren gegangen. Wo hast du ihn denn gefunden?«
    Er klang verlegen, als spräche er vor Leuten mit ihr, die er nicht so gut kannte.
    »Ist jemand bei dir?«, fragte Cecilia.
    »Nein. Ich sitze gerade im Hotelrestaurant beim Frühstück.«
    »Ich habe ihn gefunden, als ich auf dem Speicher war, um meinen Berliner Mauerstein zu suchen – egal, ich bin an einen deiner Schuhkartons gestoßen, und da fiel er heraus.«
    »Ich muss wohl um die gleiche Zeit, als ich ihn geschrieben habe, die Steuererklärung gemacht haben«, sagte John-Paul. »Was bin ich doch für ein Idiot! Ich weiß noch, dass ich ihn wie verrückt gesucht habe. Dachte schon, ich verliere den Verstand. Ich konnte gar nicht glauben , dass ich ihn verloren …« Seine Stimme verklang. »Nun gut.«
    Er klang reuevoll, fast übermäßig.
    »Ist ja auch egal.« In ihrer Stimme schwang ein mütterlicher Ton mit, als redete sie mit einer ihrer Töchter. »Aber was hat dich bewogen, ihn überhaupt zu schreiben?«
    »Kam ganz spontan. Aus einer emotionalen Stimmung heraus, denke ich mal. Unser erstes Baby. Und ich musste an meinen Vater denken und an all die Dinge, die er nicht mehr sagen konnte, weil er starb. All die klischeehaften Floskeln. Rührselige Worte wie ›Ich liebe dich‹. Nichts Weltbewegendes. Ich kann mich, ehrlich gesagt, gar nicht mehr richtig erinnern.«
    »Und wieso soll ich den Brief dann nicht öffnen?« Ihre Stimme klang bettelnd, was Cecilia leicht nervte. »Was ist schon groß dabei?«
    Wieder war es still in der Leitung.
    »Es ist nichts dabei, Cecilia, ich bitte dich nur, ihn nicht aufzumachen.« Er klang ziemlich nachdrücklich. Herrgott noch mal! Was für ein Theater! Wieso Männer sich immer so derart lächerlich benehmen müssen, wenn es um emotionale Dinge geht?!
    »Gut. Dann öffne ich ihn nicht. Und hoffen wir, dass ich das die nächsten fünfzig Jahre auch nicht tun muss.«
    »Wenn ich dich nicht überlebe.«
    »Keine

Weitere Kostenlose Bücher