Die Wahrheit eines Augenblicks
Telefon deiner Schwester, wird’s bald!«, rief Cecilia dazwischen.
Vom Flur her hörte sie ein Schlurfen, und Polly stand wieder in der Küche. Sie setzte sich zu Cecilia an den Tisch und nahm den Kopf zwischen ihre Hände.
Cecilia schob John-Pauls Brief zwischen die Seiten von Esthers Buch und betrachtete das schöne, herzförmige Gesichtchen ihrer sechsjährigen Tochter. Mit ihrem Aussehen schlug Polly aus der Art; John-Paul war gut aussehend (ein »scharfer Typ«, wie viele sagten), und auch Cecilia war (bei gedämpftem Licht) recht attraktiv. Aber irgendwie hatten sie es geschafft, eine Tochter zu zeugen, die in einer ganz anderen Liga spielte, denn Polly sah aus wie Schneewittchen: pechschwarze Haare, meerblaue Augen, rubinrote Lippen. Ihre Lippen waren so rot, dass die Leute dachten, sie hätte Lippenstift aufgetragen. Für ihre Eltern waren Pollys beide älteren Schwestern mit ihren aschblonden Haaren und den Sommersprossen um die Nase genauso schön, aber es war immer nur Polly, nach der sich alle umdrehten. »Schön ist sie, schöner, als ihr guttut«, hatte ihre Schwiegermutter neulich gesagt. Cecilia war ein wenig irritiert, obwohl sie natürlich wusste, was Virginia damit meinte. Was es wohl macht mit der eigenen Persönlichkeit, wenn man hat, wovon alle Frauen träumen? Cecilia war aufgefallen, dass schöne Frauen eine andere Körperhaltung hatten, dass sie bei all der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwurde, die Hüften wiegten wie Palmen im leichten Wind. Cecilia wollte, dass ihre Töchter rannten, trampelten und stapften. Sie wollte nicht, dass Polly sich in den Hüften wiegte.
»Willst du das Geheimnis wissen, das ich Daddy verraten habe?« Polly sah sie durch ihre langen Wimpern hindurch an.
Ja, wiegende Schritte passten gut zu ihr. Cecilia konnte es bereits vor sich sehen.
»Schon gut«, meinte Cecilia. »Du brauchst es mir nicht zu erzählen.«
»Das Geheimnis ist, dass ich beschlossen habe, Mr. Whitby zu meiner Piratenparty einzuladen«, sagte Polly.
Ihr siebter Geburtstag stand an, eine Woche nach Ostern. Ihre Piratenparty war seit fast zwei Monaten Thema Nummer eins.
»Polly, darüber haben wir bereits gesprochen.«
Mr. Whitby war Sportlehrer an der St.-Angela-Schule, und Polly war in ihn verliebt. Cecilia wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte und was es wohl für Pollys künftige Beziehungen bedeutete, dass ihr erster Schwarm ein Mann war, der in etwa im gleichen Alter zu sein schien wie ihr Vater. Sie müsste doch in einen Teenie-Star verliebt sein, nicht in einen Mann mittleren Alters mit kahl rasiertem Kopf. Obgleich Mr. Whitby schon etwas hatte. Er hatte eine breite Brust, einen athletischen Körper, fuhr Motorrad und hörte mit den Augen zu. Er strahlte einen Sex-Appeal aus, der eigentlich die Mütter faszinieren sollte (was er durchaus tat; auch Cecilia war nicht davor gefeit), nicht seine sechsjährigen Schülerinnen.
»Nein, wir laden Mr. Whitby nicht zu deiner Party ein«, erklärte Cecilia. »Das wäre nicht fair. Er könnte sonst meinen, zu jedem seiner Schüler auf die Party kommen zu müssen.«
»Aber zu meiner will er kommen.«
»Nein.«
»Wir können es ja noch einmal überlegen«, sagte Polly leichthin, rutschte vom Stuhl und trollte sich.
»Nein, können wir nicht!«, rief Cecilia ihr nach. Aber da war Polly schon weg.
Cecilia seufzte. Gut. Jede Menge zu tun. Sie stand auf und zog John-Pauls Brief wieder aus Esthers Buch heraus. Als Erstes würde sie diesen blöden Brief abheften.
Er hatte gesagt, dass er ihn gleich nach Isabels Geburt geschrieben hätte und gar nicht mehr richtig wüsste, was darin stand. Das war begreiflich. Isabel war inzwischen zwölf, und John-Paul war öfter mal verschusselt; er verließ sich stets auf Cecilias Gedächtnis.
Es war nur einfach so, dass sie ziemlich sicher war, dass er sie angelogen hatte.
5
»Vielleicht sollten wir einbrechen.« Liams Stimme durchschnitt die nächtliche Stille wie der schrille Ton einer Trillerpfeife. »Wir könnten die Scheibe mit einem Stein einschlagen. Zum Beispiel mit dem hier! Schau mal, Mum, schau doch mal, schau …«
»Schschsch«, sagte Tess. »Sei leise!« Sie schlug den Türklopfer immer und immer wieder gegen die Haustür aus Holz.
Nichts.
Es war elf Uhr abends, und Liam und sie standen vor dem Haus ihrer Mutter. Es war komplett dunkel, die Läden waren heruntergelassen. Es wirkte verlassen. So wie die ganze Straße, auf der es gespenstisch still war. War denn niemand
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