Die Wahrheit eines Augenblicks
Kaffeetassen aufzunehmen, und flocht ihre Finger durch so viele Henkel, wie sie konnte. Dann überlegte sie es sich anders und stellte die Tassen wieder ab. Während Will und Felicity zusahen, wählte sie sorgsam die zwei vollsten Tassen aus, hob sie hoch und schleuderte sie ihnen mit der Zielsicherheit eines Basketballspielers entgegen – direkt in ihre dämlichen, ernsten Gesichter.
3
Rachel dachte, die beiden würden ihr gleich mitteilen, dass sie ihr zweites Kind erwarteten. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Kaum hatten Rob und Lauren das Haus betreten, hatte sie gewusst, dass sie große Neuigkeiten zu vermelden hätten. Ihr Auftreten strahlte so viel Selbstsicherheit und Präsenz aus, dass man gar nicht anders konnte, als nur still dazusitzen und gespannt zu sein.
Rob redete mehr als sonst, Lauren weniger. Nur Jacob war so wie immer; er rannte kreuz und quer durchs Haus und riss Schränke und Schubladen auf, von denen er wusste, dass Rachel darin extra für ihn kleine Schätze aufbewahrte, Spielzeug und anderen Krimskrams, den ein Knirps wie er toll fand.
Natürlich fragte Rachel nicht nach, ob es etwas Besonderes zu berichten gäbe. Sie war nicht so. Nicht sie. Wenn Lauren zu Besuch war, achtete Rachel peinlich genau darauf, die perfekte Schwiegermutter abzugeben: fürsorgend, aber nicht übermäßig betulich; interessiert, aber nicht besserwisserisch. Was Jacob betraf, ließ sie nie eine kritische Bemerkung fallen oder mischte sich ein, nicht einmal Rob gegenüber, wenn er allein kam, denn sie wusste, wie der Satz »Mum hat gesagt …« in den Ohren einer Schwiegertochter klang. Leicht fiel Rachel das nicht. Denn in ihrem Kopf ratterte es unentwegt, ein Endlosband von Gedanken und unausgesprochenen Ratschlägen – wie der Endlosstreifen mit aktuellen Nachrichten am unteren Bildschirmrand im Fernsehen.
Erstens: Der Junge brauchte einen neuen Haarschnitt! Waren Rob und Lauren blind, dass sie nicht merkten, dass der Kleine sich in einem fort die Haare aus den Augen blies? Zweitens: Der Stoff dieses unmöglichen Bob-der-Baumeister-T-Shirts war viel zu kratzig auf seiner Haut. Wenn er damit an seinem Grandma-Tag zu ihr kam, zog sie es ihm sofort aus und steckte ihn in ein hübsches, altes weiches T-Shirt, um ihn dann in aller Hektik wieder umzuziehen, kurz bevor sie ihn am Abend zu Hause ablieferte.
Aber was hatte sie nun davon? Von all ihrer noblen Zurückhaltung? Da hätte sie genauso gut die böse Schwiegermutter spielen und Rob und Lauren das Leben zur Hölle machen können! Denn nun zogen sie weg! Und nahmen Jacob mit, als hätten sie alles Recht der Welt dazu. Was sie, genau genommen, ja auch hatten.
Es gab kein neues Baby. Lauren hatte einen Job angeboten bekommen, einen super Job in New York. Mit einem Zweijahresvertrag. Das hatten sie Rachel schließlich beim Abendessen eröffnet, als sie beim Nachtisch angelangt waren (Zimtapfelstrudel mit Vanilleeis). Aus der atemlosen Euphorie der beiden hätte man schließen können, Lauren habe einen Job im Paradies ergattert.
Jacob saß auf Rachels Schoß, als sie es ihr erzählt hatten, sein strammer, kleiner Körper eng an den ihren geschmiegt – ein süßer, müder Hosenmatz. Rachel sog den Duft seiner Haare auf, und ihre Lippen berührten die kleine Vertiefung in der Mitte seines Nackens.
Als sie Jacob das erste Mal auf dem Arm gehalten und ihren Mund an seinen weichen, zarten Schädel gedrückt hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, als wäre sie ins Leben zurückgekehrt, wie eine welke Pflanze, die endlich bewässert wird. Der frische Babyduft füllte ihre Lunge mit Sauerstoff. Rachel fühlte förmlich, wie sich ihre Wirbelsäule aufrichtete, als hätte ihr irgendjemand eine schwere Last von den Schultern genommen, die sie seit Jahren zu tragen hatte. Als sie zum Parkplatz vor der Klinik ging, konnte sie zusehen, wie Farbe zurück in die Welt sickerte.
»Wir hoffen, dass du uns oft besuchen kommst«, sagte Lauren jetzt.
Lauren war eine Karrierefrau. Sie arbeitete für die namhafte Commonwealth Bank und bekleidete dort eine sehr hohe und wichtige Position. Sie verdiente mehr als Rob, was kein Geheimnis war. Rob schien sehr stolz auf diese Tatsache zu sein und erwähnte sie öfter als nötig. Hätte Ed erlebt, wie sein Sohn mit dem Einkommen seiner Frau prahlte, wäre er vor Scham gestorben. Insofern war es ein Glück, dass er … nun ja, dass er tatsächlich bereits gestorben war. Was wie ein offener Vorwurf war. Sein letzter Vorwurf.
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