Die Wahrheit eines Augenblicks
du hast das schon einmal durchgemacht. Es bringt dich nicht um. Du fühlst dich, als bekämst du keine Luft mehr, aber in Wirklichkeit atmest du. Du glaubst, nie mehr aufhören zu können zu weinen, doch in Wirklichkeit trocknen die Tränen.
Nach und nach lockerte sich die Schraubzwinge um ihre Brust, und Rachel bekam wieder Luft. Doch das schmerzende Gefühl ging nie ganz weg. Sie hatte es längst akzeptiert. Irgendwann würde sie damit sterben. Sie wollte auch gar nicht, dass es wegging. Das wäre, als hätte Janie nie existiert.
Rachel musste an die Weihnachtskarten in jenem ersten Jahr denken:
Liebe Rachel, lieber Ed und Rob, wir wünschen euch frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr .
Es war, als wäre die Stelle, an der Janie sonst erwähnt worden war, einfach zugeschoben. Und von wegen »froh«! Die hatten wohl alle eine Schraube locker! Rachel hatte jedes Mal geflucht, wenn sie eine weitere Karte aufgemacht hatte, und sie in winzige Stücke zerrissen.
»Mum, lass ihnen Zeit, sie wissen einfach nicht, was sie anderes schreiben sollen«, hatte Rob mit matter Stimme gesagt. Er war gerade fünfzehn geworden, und sein Gesicht sah aus, als gehörte es einem traurigen, blassen, fünfzigjährigen Mann mit Akne.
Rachel wischte die Makronenkrümel mit dem Handrücken von der Bettdecke. »Krümel! Herrgott noch mal, überall Krümel!«, hätte Ed geschimpft. Im Bett zu essen war für ihn ein Unding gewesen. Und er würde Zustände kriegen, wenn er den Fernseher auf der Kommode vor dem Bett stehen sehen könnte. Menschen, die in ihrem Schlafzimmer einen Fernseher hatten, so hatte Ed geglaubt, seien nicht besser als Drogensüchtige, schwache, liederliche Typen. Das Schlafzimmer war seiner Meinung nach dazu da, allabendlich vor dem Schlafengehen auf Knien neben dem Bett ein Abendgebet zu sprechen, während der Kopf auf den Fingerspitzen ruhte, die Lippen sich rasch bewegten (sehr rasch, denn er wollte die kostbare Zeit des Großen Herrn nicht über Gebühr strapazieren), gefolgt von Sex, gefolgt von Schlaf.
Rachel nahm die Fernbedienung zur Hand, richtete sie auf den Fernseher und zappte durch die Programme.
Ein Dokumentarfilm über die Berliner Mauer.
Nein. Zu traurig.
Eine Sendung über Verbrechensaufklärungen.
Nie und nimmer.
Eine Familienkomödie.
Hier blieb sie eine Weile hängen, doch es ging um einen Ehemann und eine Ehefrau, die sich die ganze Zeit mit schrecklich schrillen Stimmen ankeiften. Rachel schaltete um zu einer Kochsendung und stellte leiser. Seit sie allein lebte, ließ sie beim Einschlafen immer den Fernseher laufen. Das beruhigende gleichförmige Murmeln der Stimmen und das Flackern der Bilder wehrten die Angstgefühle ab, die sie bisweilen überkamen.
Sie drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Sie ließ beim Schlafen immer das Licht an. Nach Janies Tod konnten sie und Ed die Dunkelheit nicht mehr aushalten. Sie konnten sich nicht mehr schlafen legen wie normale Menschen, sondern mussten sich überlisten und so tun, als legten sie sich gar nicht schlafen.
Hinter ihren geschlossenen Lidern sah sie Jacob durch eine Straße in New York schlendern. Er trug seinen Spieloverall, bückte sich mit seinen dicken kleinen Händen auf den Knien und untersuchte den Dampf, der aus dem Schacht in der Straße aufstieg. War der Dampf heiß ?
Hatte sie eben um Janie geweint oder in Wirklichkeit um Jacob? Rachel wusste nur eins: Würde man ihr auch noch Jacob nehmen, wäre ihr Leben erneut unerträglich, es sei denn (und das war das Allerschlimmste), sie würde es so hinnehmen und ertragen, es würde sie ja nicht umbringen. Sie würde weiterleben, Tag für Tag für Tag, den endlosen Kreis strahlend schöner Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge erleben, die Janie niemals mehr sehen könnte.
Hast du nach mir gerufen, Janie?
Dieser Gedanke fühlte sich an wie eine scharfe Messerspitze, die sich tief in ihr Herz bohrte.
Sie hatte irgendwo einmal gelesen, dass verwundete Soldaten nach Morphium und ihrer Mutter rufen, bevor sie auf dem Schlachtfeld sterben. Vor allem die italienischen Soldaten. »Mamma mia!«, rufen sie.
Rachel machte eine schnelle, ruckartige Bewegung, die ihren Rücken verzerrte, setzte sich auf und hüpfte in Eds Schlafanzug aus dem Bett (sie hatte angefangen, seine Pyjamas zu tragen, gleich nachdem er gestorben war, und machte das noch immer so, obwohl sie kaum mehr nach ihm rochen. Aber sie konnte es sich immerhin einbilden).
Sie kniete sich neben die Kommode,
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