Die Wahrheit eines Augenblicks
Marionette« bezeichneten. Und damit löste er unter der Bevölkerung große Unsicherheit aus. Was … wie …? Was für eine MAUER ? Tausende weitere ostdeutsche Bürger machten sich auf und davon.
Im australischen Sydney saß ein junges Mädchen namens Rachel Fisher auf einer hohen Mauer mit Blick auf Manly Beach, ließ die langen, braunen Beine baumeln, während ihr Freund, Ed Crowley, durch den Sydney Morning Herald blätterte und sehr zu ihrem Ärger völlig vertieft darin war. In der Zeitung gab es einen Artikel über die Entwicklungen in Europa, für die sich aber weder Ed noch Rachel groß interessierten.
»Hey, Rach, was hältst du davon, wenn wir dir so einen besorgen?«, sagte Ed schließlich und zeigte auf eine Seite.
Rachel schielte über seine Schulter und sah eine ganzseitige Werbeanzeige des Juweliergeschäfts Angus & Coote. Ed zeigte mit dem Finger auf einen Verlobungsring und bekam sie gerade noch am Ellbogen zu packen, bevor sie vornüber von der Mauer auf den Sandstrand kippte.
Sie waren fort. Rachel lag im Bett und sah fern, auf dem Schoß eine Zeitschrift, auf dem Nachttisch neben dem Bett eine Tasse Earl Grey und die Schachtel Makronen, die Lauren ihr heute Abend mitgebracht hatte. Eigentlich hatte Rachel den beiden davon anbieten wollen, hatte es dann aber vergessen. Möglicherweise absichtlich; sie konnte ihre Schwiegertochter nicht leiden, wie sehr, hatte sie bis zum heutigen Tag nicht einmal selbst gewusst. Gut möglich, dass sie sie sogar hasste.
Wieso gehst du nicht allein nach New York, mein liebes Mädchen? Nimm dir gern zwei Jahre Auszeit, nur für dich!
Rachel zog die Makronen-Schachtel zu sich herüber und musterte die sechs knallbunten Plätzchen. Sie fand sie nicht besonders. Sie waren wohl eher der letzte Schrei unter Leuten, die Wert legten auf alles, was gerade der letzte Schrei ist. Sie stammten aus einem Laden in der Stadt, in dem die Kunden angeblich stundenlang anstanden, um sie zu kaufen. Dummköpfe. Hatten sie nichts Besseres zu tun? Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass Lauren dort stundenlang angestanden hatte. Schließlich hatte Lauren Besseres zu tun! Rachel hatte das Gefühl, dass es eine Geschichte zu diesen Makronen gab, aber sie hörte nie wirklich zu, wenn Lauren über etwas anderes als Jacob redete.
Sie suchte sich eine Erdbeer-Makrone aus und biss zaghaft hinein.
»Oh, mein Gott«, stöhnte sie sogleich und dachte zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit an Sex. Sie biss ein größeres Stück ab. »Du heilige Maria.« Sie lachte laut. Kein Wunder, dass die Leute sich dafür die Beine in den Bauch standen! Ein himmlischer Genuss. Der Erdbeergeschmack im cremigen Inneren war, als striche ein sanfter Finger über ihre Haut, und die Meringe war leicht und zart, so, als würde man in eine weiche Wolke beißen.
Moment. Wer sagte das noch gleich?
»Wie als würde man in eine weiche Wolke beißen, Mummy!« Ein glückliches, kleines Gesicht.
Janie. Da war sie ungefähr vier Jahre alt gewesen und hatte ihre erste Zuckerwatte gegessen. War es im Luna Park gewesen? Oder auf einem Pfarrfest? Rachel bekam es nicht mehr richtig zusammen, zu sehr war sie fixiert auf Janies strahlendes Gesichtchen und ihre Worte. Wie als würde man in eine weiche Wolke beißen, Mummy.
Janie hätte diese Makronen geliebt.
Mit einem Mal rutschte Rachel das Plätzchen aus den Fingern, und sie duckte sich leicht, als könnte sie dem ersten Schlag ausweichen. Aber es war zu spät. Sie war bereits getroffen. So schlimm hatte sie es lange nicht mehr erwischt. Sie spürte schmerzhafte Stiche, so frisch, so erschütternd wie in jenem ersten Jahr, als sie jeden Morgen aufgewacht war und für einen Moment alles vergessen hatte, bis es ihr mit voller Wucht entgegenschlug und sie gewahrte, dass Janie nicht mehr dort hinten in ihrem Zimmer war, sich mit viel zu viel Deo einnebelte, orangebraunes Make-up auf ihrer makellosen siebzehnjährigen Haut verteilte und zu Madonna-Songs tanzte.
Die himmelschreiende Ungerechtigkeit all dessen zerriss ihr das Herz und löste wehenartige Schmerzen aus. Meine Tochter hätte diese dämlichen Plätzchen geliebt. Meine Tochter hätte Karriere gemacht. Meine Tochter hätte nach New York gehen können.
Es war, als umspannte eine stählerne Schraubzwinge ihre Brust und drückte sie so fest zusammen, dass Rachel das Gefühl bekam zu ersticken. Sie schnappte nach Luft und hörte trotz aller Panik die matte und ruhige Stimme der Erfahrung: Du kennst das,
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