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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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zog eine Schublade auf und nahm ein altes Fotoalbum mit einem weichen, verblassten grünen Vinyleinband heraus.
    Rachel setzte sich wieder aufs Bett und blätterte langsam durch die Seiten. Janie lacht. Janie tanzt. Janie isst. Janie schmollt. Janie mit ihren Freundinnen.
    Und da war er. Dieser Junge. Er blickte nicht in die Kamera. Er sah Janie an, als hätte sie gerade etwas Schlaues, etwas Witziges gesagt. Aber was? Was, Janie? Was hast du gesagt? Rachel stellte sich diese Frage jedes Mal, wenn sie das Foto sah.
    Sie drückte eine Fingerspitze auf sein grinsendes, sommersprossiges Gesicht und blickte dabei auf ihre leicht arthritische, altersfleckige Hand, die sich zur Faust geballt hatte.

6
    17. April 1984
    Als Janie Crowley an jenem kühlen Morgen im April aus dem Bett kroch, klemmte sie zuallererst einen Stuhl unter die Türklinke, damit ihre Eltern nicht hereinplatzen konnten. Dann kniete sie sich neben ihr Bett und hievte die Matratze hoch, um eine zartblaue Schachtel hervorzuziehen. Sie setzte sich auf die Bettkante und drückte eine winzige, gelbe Pille aus der Folie. Vorsichtig hob sie sie zwischen zwei Fingern gegen das Licht, musterte sie, sinnierte über die große Bedeutung, die darin steckte, und legte sie dann mitten auf ihre Zunge, so andächtig, als würde sie die Hostie bei der heiligen Kommunion empfangen. Dann schob sie die Schachtel wieder unter ihre Matratze und sprang in ihr kuschelig warmes Bett zurück, zog sich die Decke bis unter die Nase und drehte das Radio an, aus dem blechern die Stimme von Madonna klang. Like a Virgin .
    Die winzige Pille schmeckte nach Chemie, süß und wunderbar sündig.
    »Betrachte deine Jungfräulichkeit als ein Geschenk! Vergib sie nicht einfach so an irgendeinen dahergelaufenen Kerl!«, hatte ihre Mutter in einem dieser Gespräche zu ihr gesagt, in denen sie versuchte, locker und gelassen zu wirken – so, als wäre irgendeine Form von vorehelichem Verkehr grundsätzlich okay, als müsse ihr Vater natürlich nicht auf die Knie fallen und tausende Novenengebete sprechen bei dem Gedanken daran, dass irgendjemand sein unverdorbenes, reines kleines Mädchen berühren könnte.
    Janie hatte nicht die Absicht, ihre Jungfräulichkeit an irgendeinen Kerl zu verschenken. Es hatte ein Bewerbungsverfahren gegeben, und heute würde sie den ausgewählten Siegerkandidaten benachrichtigen.
    Im Radio kamen die Nachrichten, die größtenteils langweilig waren. Sie gingen an ihr vorbei und hatten ohnehin nichts mit ihr zu tun. Die einzig interessante Meldung war, dass Kanadas erstes Retortenbaby geboren worden war. Australien hatte bereits ein Retortenbaby! Also haben wir gewonnen, Kanada! Ha, ha. (Janie hatte ältere Cousinen in Kanada, die mit ihrer weltklugen Nettigkeit und ihrem nicht ganz amerikanischen Akzent dafür sorgten, dass sie sich minderwertig fühlte.) Sie setzte sich aufrecht hin, griff nach ihrem Schulblock und malte ein langes, dünnes Baby, das eingequetscht in einem Reagenzglas saß, die kleinen Händchen gegen das Glas gedrückt, den Mund weit geöffnet. Lasst mich raus! Lasst mich raus! Wenn sie das ihren Mitschülerinnen zeigte, würden sie lachen. Janie klappte den Block wieder zu. Die Vorstellung von einem Retortenbaby war irgendwie widerlich. Es erinnerte sie an jenen Tag, als ihr Bio-Lehrer angefangen hatte, über weibliche »Eier« zu reden. Wi-der-lich! Und das Schlimmste? Er war ein Mann. Ein Mann, der über weibliche Eier sprach. Das kriegte sie nicht zusammen. Janie und ihre Freundinnen waren außer sich gewesen. Außerdem hätte er jeder Einzelnen von ihnen bestimmt gern in den Ausschnitt geguckt. Sie hatten ihn nie wirklich dabei ertappt, aber sie spürten sein widerwärtiges Verlangen.
    Es war eine Schande, dass Janies Leben in nur acht Stunden zu Ende sein würde, nur weil sie sich selbst nicht leiden konnte. Sie war ein herziges Baby gewesen, ein reizendes kleines Mädchen, ein schüchterner, süßer Teenager. Doch um ihren siebzehnten Geburtstag herum im vergangenen Mai hatte sie sich verändert. Sie war sich ihrer leichten »Schrecklichkeit« vage bewusst. Es war ihre eigene Schuld. Sie hatte eine entsetzliche Angst vor allem – vor der Universität, vor dem Autofahren, vor einem Anruf beim Friseur, um einen Termin zu vereinbaren. Die Hormone in ihrem Körper spielten verrückt. Und jede Menge Jungs begannen, ihr heftig Avancen zu machen, als wäre sie ein hübsches Mädchen, was sie zwar nett, aber höchst verwirrend fand. Denn wenn

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