Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
Vom Netzwerk:
mehr auf und sah die Spätnachrichten? Das einzige Licht kam von einer Straßenlaterne an der Ecke. Am Himmel war kein einziger Stern zu sehen, vom Mond ganz zu schweigen. Zu hören war nichts außer dem traurigen Zirpen einer einzelnen Zikade, einer letzten Botin des Sommers, sowie dem leisen Summen von Motoren irgendwo in der Ferne. Tess konnte den weichen Duft der Gardenien im Garten riechen. Der Akku ihres Handys war leer. Sie konnte niemanden anrufen, nicht einmal ein Taxi rufen. Vielleicht mussten sie wirklich einbrechen, doch Tess’ Mutter war über die letzten Jahre extrem sicherheitsbewusst geworden. Und hatte sie inzwischen nicht eine Alarmanlage? Tess stellte sich vor, wie die Sirene plötzlich aufheulen und die ganze Nachbarschaft aufscheuchen würde.
    Ich kann nicht glauben, dass mir das passiert.
    Sie hatte das Ganze nicht durchgedacht. Sie hätte ihre Mutter früher am Abend anrufen und sich ankündigen müssen, doch sie war derart durch den Wind gewesen, hatte gebucht und gepackt und war zum Flughafen gefahren. Dort hatte sie das richtige Gate gesucht, und Liam war die ganze Zeit neben ihr hergetrabt und hatte munter geplappert. Er war so aufgeregt, dass er auch im Flieger nicht geschwiegen hatte, und jetzt war er völlig erschöpft.
    Liam war im Glauben, sie wären zu einer Rettungsmission aufgebrochen, um der Großmutter zu helfen.
    »Grandma hat sich den Knöchel gebrochen«, hatte Tess ihm erzählt, und sein Gesicht war wie ein Weihnachtsbaum erstrahlt. Von einer neuen Schule hatte sie ihm noch gar nichts gesagt.
    Felicity war gegangen. Und während Tess und Liam gepackt hatten, war Will blass und schniefend durchs Haus geschlichen.
    Als sie allein waren, warf Tess Klamotten in eine Tasche, während er auf sie einredete und sie ihn anfauchte wie eine Kobra, die sich aufrichtet, um zuzuschlagen. »Lass mich in Ruhe!«, giftete sie ihn an.
    »Tut mir so leid«, sagte er und wich einen Schritt zurück. »Tut mir so wahnsinnig leid.«
    Leidtun  – dieses Wort mussten er und Felicity inzwischen Hunderte Male benutzt haben.
    »Ich verspreche dir«, sagte Will und senkte die Stimme, vermutlich, damit Liam ihn nicht hörte. »Falls du irgendeinen leisen Zweifel hast, sollst du wissen, dass wir kein einziges Mal miteinander geschlafen haben.«
    »Sagtest du bereits, Will. Ich weiß nicht, warum du denkst, dass es das besser macht. Es macht es schlimmer. Es kam mir nie in den Sinn, dass ihr miteinander schlafen würdet! Soll ich etwa noch Danke sagen? Danke für eure Zurückhaltung? Himmelherrgott!« Ihre Stimme zitterte.
    »Tut mir leid«, sagte er noch einmal, wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und schniefte dabei laut.
    Vor Liam hatte sich Will vollkommen normal verhalten. Er hatte ihm geholfen, seine Lieblingsbaseballmütze zu suchen, die sich unter Liams Bett fand, und als das Taxi kam, sank er in die Knie und herzte und drückte ihn raubeinig, wie liebevolle Väter das mit ihren Söhnen tun. Tess war absolut klar, wie Will es geschafft hatte, die Sache mit Felicity so lange geheim zu halten. Das Familienleben hatte seinen eigenen altgewohnten Rhythmus, auch mit einem kleinen Jungen, und es war durchaus möglich, sich so zu geben wie immer, selbst wenn man mit den Gedanken ganz woanders war.
    Und da stand sie nun, gestrandet in diesem verschlafenen kleinen Vorort im Norden von Sydney mit einem völlig übermüdeten Sechsjährigen.
    »Nun«, sagte sie vorsichtig zu Liam. »Ich glaube, wir müssen …«
    Was? Die Nachbarn aufwecken? Riskieren, die Alarmanlage auszulösen?
    »Warte!«, sagte Liam. Er legte einen Finger auf seinen Mund; und seine großen Augen schimmerten wie zwei dunkle Seen in der Nacht. »Ich glaube, drinnen tut sich etwas.«
    Er drückte sein Ohr an die Haustür. Tess tat es ihm nach.
    »Hörst du das?«
    Ja, sie hörte etwas. Ein ungewohntes, rhythmisches Stapfen von oben.
    »Das müssen Grandmas Krücken sein«, sagte Tess.
    Die Arme! Sie war wahrscheinlich schon im Bett gewesen. Ihr Schlafzimmer lag genau am anderen Ende des Hauses. Scheiß-Will. Scheiß-Felicity. Ihre arme, geplagte Mutter aus dem Bett zu holen!
    Wann genau hatte das mit Will und Felicity angefangen? Gab es irgendeinen konkreten Zeitpunkt, an dem sich irgendetwas geändert hatte? Hatte sie, Tess, ihn verpasst? Wie konnte das sein? Sie sah die beiden an jedem einzelnen Tag ihres Lebens, und nie war ihr irgendetwas aufgefallen. Am vergangenen Freitag war Felicity zum Abendessen geblieben. Mag sein,

Weitere Kostenlose Bücher