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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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sie in den Spiegel schaute, sah sie nichts weiter als ein gewöhnliches, abgrundtief hässliches Gesicht und einen unheimlich langen, spindeldürren Körper. Sie sah aus wie eine Gottesanbeterin. Das hatte eines der Mädchen an ihrer Schule zu ihr gesagt, und es stimmte. Ihre Gliedmaßen waren viel zu lang, insbesondere ihre Arme. Ihre Proportionen waren völlig aus den Fugen geraten.
    Noch dazu war ihre Mutter gerade mit irgendetwas anderem beschäftigt, was bedeutete, dass sie ihre gesteigerte und oft nervige Aufmerksamkeit nicht mehr ungeteilt auf Janie lenkte. (Ihre Mutter war vierzig ! Was, bitte schön, konnte im Leben einer Vierzigjährigen vor sich gehen, das so derart interessant war?) Es war verstörend zu spüren, wie dieses helle Rampenlicht der Aufmerksamkeit ohne Vorwarnung schwand. Schmerzhaft, eigentlich, obgleich Janie das nie zugegeben oder gar bewusst gemerkt hätte, dass es sie schmerzte.
    Hätte Janie weitergelebt, hätte ihre Mutter irgendwann ihre gesteigerte und nervige Aufmerksamkeit wieder ungeteilt auf sie gelenkt, und sie wären so eng verbunden gewesen, wie Mutter und Tochter es nur sein konnten; und Janie wäre so um ihren neunzehnten Geburtstag herum wieder wunderhübsch geworden und hätte ihre Mutter irgendwann beerdigt anstatt umgekehrt ihre Mutter sie.
    Hätte Janie weitergelebt, hätte sie weiche Drogen und harte Jungs ausprobiert, Wasseraerobic und Gärtnern, Botox und Tantra-Sex. Im Laufe ihres Lebens hätte sie drei leichte Autounfälle gehabt, vierunddreißig schlimme Erkältungen und zwei größere operative Eingriffe. Sie wäre eine mäßig erfolgreiche Grafikdesignerin geworden, eine mutige Sporttaucherin, eine zimperliche Camperin, eine begeisterte Wanderin und eine der ersten Benutzerinnen von iPod, iPhone und iPad. Von ihrem ersten Mann hätte sie sich scheiden lassen und mit ihrem zweiten Mann hätte sie mithilfe künstlicher Befruchtung Zwillinge bekommen, und den Begriff ›Retortenbaby‹ hätte sie wie einen alten Witz so gut wie vergessen. Sie würde Fotos von sich und ihrer Familie auf Facebook posten, um von ihren kanadischen Cousinen ein »Like« zu bekommen. Mit zwanzig hätte sie ihren Namen in Jane geändert und mit dreißig wieder in Janie.
    Hätte Janie Crowley weitergelebt, wäre sie gereist und hätte Diäten gemacht, hätte getanzt und gekocht, gelacht und geweint, viel ferngesehen und ihr Bestes gegeben.
    Aber nichts von alldem sollte passieren, denn es war der letzte Morgen, der letzte Tag in ihrem Leben. Und obgleich es sie gefreut hätte, all die weinenden, mascaraverschmierten Gesichter ihrer Freundinnen zu sehen, die an ihrem Grab standen, ihrer Trauer freien Lauf ließen, einander umklammerten und schluchzten, hätte sie viel lieber all die vielen Dinge erlebt, die das Leben noch für sie bereitgehalten hätte.

7
    Dienstag
    Cecilia verbrachte die meiste Zeit auf Schwester Ursulas Beerdigung damit, an Sex zu denken. Nicht an abartigen, perversen Sex. Nein, an ehelichen, vom Papst genehmigten Sex. Wie auch immer. Schwester Ursula hätte es wahrscheinlich nicht gutgeheißen.
    »Schwester Ursula widmete sich treu und unermüdlich den Kindern von St. Angela.« Pater Joe griff das Lesepult von beiden Seiten, blickte ernst in die winzige Schar der Trauernden, und es schien, als bliebe sein Blick ganz kurz an Cecilia hängen, um ihre wohlwollende Zustimmung zu bekommen. Cecilia nickte leicht und lächelte, um ihm zu bedeuten, dass er seine Sache gut machte.
    Pater Joe war erst dreißig und nicht unattraktiv. Was bewegt einen Mann in diesem Alter heutzutage dazu, sich für die Priesterschaft zu entscheiden? Für das Zölibat ?
    Womit sie wieder beim Sex war. Sorry, Schwester Ursula .
    Dass irgendetwas mit ihrem Sexleben im Argen lag, war ihr zum ersten Mal vergangene Weihnachten klar geworden. Sie und John-Paul gingen nicht mehr zur gleichen Zeit ins Bett. Entweder blieb er bis spät in die Nacht auf, arbeitete oder surfte im Internet. Bis er ins Bett kam, war sie eingeschlafen. Oder aber er verkündete plötzlich, hundemüde zu sein, und legte sich schon um neun Uhr in die Falle. Die Wochen gingen dahin, und hin und wieder dachte sie bei sich: Oje, schon eine ganze Weile her! Kurz darauf hatte sie den Gedanken jedoch wieder vergessen.
    Dann kam jener Abend im Februar. Cecilia ging mit einigen der Viertklässler-Mütter essen und trank mehr als gewöhnlich, da Penny Maroni fuhr. Als sie wieder daheim war und ins Bett kroch, hatte sie Lust auf Sex, doch

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