Die Wahrheit eines Augenblicks
würde sie später, wenn die Kinder einmal in der Highschool waren, mehr Zeit haben, darüber nachzudenken.
Aber trotz alledem hielt sie jeder für erzkatholisch.
Sie musste an Bridget denken, die neulich, als sie beim Abendessen saßen, gesagt hatte: »Wie kommt es, dass du so katholisch bist?« Dabei hatte Cecilia etwas völlig Banales über Pollys erste heilige Kommunion im kommenden Jahr erwähnt. Als hätte Bridget, ihre jüngere Schwester, nicht selbst einmal eifrig in diesem liturgischen Zirkus mitgespielt, damals, als sie selbst noch zur Schule gegangen waren.
Cecilia hätte gute Lust gehabt, ihre kleine Schwester zu packen und ihr ein Kissen auf den Kopf zu hauen. Das hatte immer gewirkt, früher, als sie Kinder gewesen waren, wenn sie ihr die Leviten hatte lesen wollen. Schade nur, dass man als Erwachsener seine wahren Gefühle immer unterdrücken musste!
Natürlich hatte Bridget auch zurückgeschlagen. Nur hatte sie vor Schmerzen immer sehr viel mehr gestöhnt, war nachtragend und sorgte dafür, dass Cecilia auch ja dafür büßen musste.
Pater Joe kam nun zum Ende. Gedämpftes Raunen, verhaltenes Seufzen und Hüsteln sowie die knackenden Geräusche älterer Kniegelenke waren zu hören, als sich die in der Kirche verstreute Trauergemeinde zum Schlusslied erhob. Über den Kirchengang hinweg fing Cecilia den Blick von Melissa McNulty auf, der ihr sagen wollte: Sind wir nicht gute Menschen, kommen zur Beerdigung von Schwester Ursula, obwohl sie doch so schrecklich war und wir eigentlich so viel anderes zu erledigen hätten ?
Und Cecilia erwiderte mit einem kläglichen, leichten Schulterzucken: Aber ist das nicht immer so ?
Im Auto hatte sie eine Tupperware-Bestellung, die sie Melissa nach der Beerdigung geben wollte. Und sie musste daran denken, sie noch einmal daran zu erinnern, dass sie Polly am Nachmittag vom Ballett abholte, da sie selbst mit Esther zur Sprachtherapie musste und mit Isabel zum Friseur. Apropos Friseur, Melissa müsste dringend mal wieder nachfärben. Die schwarzen Haaransätze sahen fürchterlich aus. Es war garstig von Cecilia, das zu bemerken, aber sie musste unweigerlich daran denken, wie sie im vergangenen Monat mit Melissa in der Schulkantine gestanden und die ihr vorgejammert hatte, dass ihr Mann jeden zweiten Tag Sex wolle, sie könne die Uhr danach stellen.
Cecilia stimmte in das Lied ein, dachte an Bridgets frotzelnde Bemerkung beim Abendessen und wusste, warum die sie so geärgert hatte.
Weil es um Sex ging. Denn wenn sie keinen Sex mehr hatte, war sie nichts weiter als eine biedere, trutschige Frau mittleren Alters. Trutschig? Sie? Niemals . Erst gestern hatte ihr ein Brummi-Fahrer hinterhergepfiffen, als sie in ihrem kurzen Karorock bei Dunkelgelb über die Straße gelaufen war, weil sie eben noch schnell Koriander besorgen wollte.
Der Pfiff galt eindeutig ihr. Eine andere, jüngere, attraktivere Frau war nirgendwo in Sicht, das hatte sie genau kontrolliert. Und auch letzte Woche hatte sie so eine befremdliche Situation erlebt, als sie mit den Mädchen im Einkaufszentrum unterwegs war und ihnen plötzlich jemand hinterherpfiff. Sie blickte sich um und bemerkte, wie Isabel stur geradeaus sah und vor Scham leicht errötete. Ihre Älteste war in letzter Zeit förmlich in die Höhe geschossen, war fast schon so groß wie Cecilia, bekam weiblichere Rundungen, die Taille wurde schmaler, die Hüften breiter und die Brüste wurden voller. Sie steckte die Haare neuerdings zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen und ließ den dicken Pony bis fast in die Augen hängen. Ja, sie wurde erwachsen, und das fiel offenbar nicht nur ihrer Mutter auf.
Jetzt geht es also los, hatte Cecilia traurig gedacht. Sie wünschte, sie könnte Isabel beschützen, mit einem Schutzschild vor ihr herlaufen (wie eine Bereitschaftspolizistin im Einsatz), um sie vor der männlichen Aufmerksamkeit zu bewahren: vor dem Gefühl, gemustert und bewertet zu werden, wenn man über die Straße ging; vor abfälligen Kommentaren, die aus vorbeifahrenden Autos gerufen werden; vor beiläufig begehrlichen Blicken. Sie hatte es selbst nie ganz begriffen. Ist alles kein Problem . Doch, es ist ein Problem, ein großes Problem sogar! Niemand hat das Recht, es herunterzuspielen oder zu sagen: Ach, ignorier es doch einfach, irgendwann bist du vierzig und merkst, dass sich keiner mehr nach dir umdreht. Du magst vielleicht so etwas wie Erleichterung empfinden, du wirst es jedoch auch vermissen, und wenn dir dann mal ein
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