Die Wahrheit eines Augenblicks
Brummi-Fahrer hinterherpfeift, denkst du verwundert: Wie? Der meint mich?
Die Pfiffe neulich hatten wirklich ernst und freundlich geklungen.
Es war ein wenig beschämend, wie viel Zeit sie darauf verwendet hatte, dieses Pfeifen zu analysieren.
Wie auch immer. Jedenfalls stand für sie außer Zweifel, dass John-Paul keine Affäre hatte. Nein, er hatte definitiv keine. Das kam nicht in Betracht. Nein, unmöglich. Dafür hätte er gar keine Zeit! Wo sollte er die denn in seinem vollen Terminkalender unterbringen?
Er verreiste manchmal, das ja. Dann könnte er eine Affäre einschieben.
Schwester Ursulas Sarg wurde von vier breitschultrigen jungen Männern in Anzug und Krawatte, mit verstrubbelten Haaren und andächtig ausdruckslosen Gesichtern aus der Kirche getragen. Es waren angeblich ihre Neffen. Die launische Schwester Ursula hatte also die gleiche DNA wie diese attraktiven jungen Burschen. Die hatten wahrscheinlich auch die ganze Zeit nur Sex im Kopf gehabt. Jung und hormongesteuert, wie sie waren. Der größte von ihnen sah mit seinen dunklen, leuchtenden Augen besonders gut aus …
Du lieber Gott! Jetzt malte sie sich sogar aus, Sex mit einem von Schwester Ursulas Sargträgern zu haben. Einem Kind , dem Aussehen nach. Er ging wahrscheinlich noch auf die Highschool. Ihre Gedanken waren nicht nur unmoralisch und unangemessen, sondern auch sittenwidrig und verboten. (War es verboten zu denken? War es verboten, sich Sex mit einem der Sargträger ihrer ehemaligen Grundschullehrerin auszumalen?)
Wenn John-Paul am Karfreitag aus Chicago zurück sein würde, würden sie wieder jede Nacht miteinander schlafen. Sie würden ihr Liebesleben ganz neu entdecken. Das wäre großartig! Sie hatten immer großartigen Sex gehabt.
Besseren Sex als mit ihr könnte John-Paul gar nicht bekommen. (Cecilia hatte jede Menge Bücher gelesen, hielt sich stets auf dem Laufenden, betrachtete das als ihre heilige Pflicht.) Er hatte keinen Grund für eine Affäre. Ganz abgesehen davon, war er einer der anständigsten, moralischsten und tugendhaftesten Menschen, die sie kannte. Eheliche Untreue kam für ihn gar nicht infrage. So etwas würde er einfach nicht machen.
Und dieser Brief hatte nichts zu tun mit einer Affäre. Sie dachte nicht einmal mehr an den Brief! Er scherte sie überhaupt nicht. Der flüchtige Gedanke gestern Abend am Telefon, als sie kurz den Eindruck gehabt hatte, John–Paul würde sie anlügen, war völlig aus der Luft gegriffen. Das beunruhigende Gefühl, das so ungreifbar blieb, rührte nur daher, dass Ferngespräche an sich irgendwie ungreifbar waren. Irgendwie unnatürlich. Man befand sich an zwei verschiedenen Enden der Welt, hatte verschiedene Tageszeiten und konnte den Sprechtakt nie so richtig angleichen: Der eine sprach viel zu schnell, der andere hinkte hinterher.
Den Brief zu öffnen würde nichts Schreckliches offenbaren. Zum Beispiel, dass er eine heimliche zweite Familie hatte, die er versorgen musste. Nein, John-Paul verfügte nicht über die nötigen organisatorischen Fähigkeiten, um eine Doppelehe auf die Reihe zu kriegen. Er würde ständig irgendwelche wichtigen Sachen in der anderen Wohnung vergessen.
Es sei denn natürlich, sein ungreifbares Verhalten war Teil seines Doppelspiels.
Vielleicht war er ja schwul. Und wollte deshalb keinen Sex mehr. Er hatte all die Jahre nur vorgegeben, heterosexuell zu sein. Nun, das jedenfalls war ihm gut gelungen. Cecilia dachte an die Anfangsjahre ihrer Beziehung, als sie drei- bis viermal am Tag Sex gehabt hatten. Und das ging definitiv über alle Pflichten hinaus, sollte er sein sexuelles Interesse nur vorgetäuscht haben.
Er mochte Musicals. Er liebte Cats ! Und er konnte die Mädchen besser frisieren, als sie, Cecilia, es konnte. Wenn Polly eine Ballettaufführung hatte, bestand sie darauf, dass John-Paul ihr die Haare zu einem Knoten steckte. Er konnte mit Polly über Arabesken und Pirouetten ebenso gut reden wie mit Isabel über Fußball und mit Esther über die Titanic . Und er liebte seine Mutter abgöttisch. Hatten schwule Männer nicht eine besonders enge Beziehung zu ihrer Mutter? Oder war das ein Mythos?
Er besaß ein aprikosenfarbenes Poloshirt, das er selbst bügelte.
Ja, wahrscheinlich war er schwul.
Das Schlusslied verklang. Schwester Ursulas Sarg hatte die Kirche verlassen, und die versammelten Trauergäste schickten sich zum Gehen an, griffen nach Taschen und Jacken, froh, sich guten Gewissens wieder ihrem Tagesgeschäft widmen zu
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