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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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»Wir kommen.«
    Mary stapfte durch den Garten davon. »Ups, ein Gänseblümchen.«
    »Ich geb dir gleich ›ups‹«, maulte Lucy.
    Tess spürte ein schmerzliches Gefühl von Verlust beim Gedanken, diese kleine Geschichte von ihren Müttern nicht mit Felicity teilen zu können. Es war, als hätte sich die richtige Felicity nebst ihrem alten, fetten Körper verdünnisiert. Existierte sie überhaupt noch? Hatte sie jemals existiert?
    »Wie geht es euch beiden?«, grüßte Tess ihre Tante und ihren Onkel, als beide ins Haus traten.
    »Mein Schätzchen«, sagte Mary. »Und Liam! Du bist schon wieder ein ganzes Stück gewachsen. Wie kann denn so was sein?«
    »Hi, Onkel Phil.« Tess und ihr Onkel begrüßten einander mit einem Wangenkuss, doch zu ihrer Überraschung zog er sie plötzlich an sich, umarmte sie unbeholfen und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich schäme mich zutiefst für meine Tochter.«
    Dann stellte er sich aufrecht hin und sagte: »Ich spiele mit Liam, solange ihr Mädels redet.«
    Liam und Onkel Phil machten es sich vor dem Fernseher gemütlich; Mary, Lucy und Tess setzten sich derweil bei einem Tee an den Küchentisch.
    »Ich habe doch ziemlich deutlich gesagt, dass du hier nicht aufzutauchen brauchst«, sagte Tess’ Mutter, die allerdings nicht so sauer auf ihre Schwester war, dass sie ihr ihre absolut leckeren Schoko-Brownies verwehrte.
    Mary rollte die Augen, stützte die Ellbogen auf den Tisch und drückte Tess’ Hand fest zwischen ihren beiden warmen, dicken, kleinen Handflächen. »Meine Süße, es tut mir so leid, was dir passiert ist!«
    »Es ist aber keine Sache, die ihr einfach so passiert ist.« Lucy explodierte fast.
    »Nein, was ich sagen will … ich denke nicht, dass Felicity wirklich eine Wahl hatte«, erwiderte Mary.
    »Oh, klar! Habe ich gar nicht bedacht! Arme Felicity! Irgendwer hat ihr eine Knarre an den Kopf gehalten, was?« Lucy führte ihre Hand an die Schläfe und streckte den Zeigefinger, um ihren Satz mit der entsprechenden Geste zu untermalen. Tess fragte sich, wann ihre Mutter wohl das letzte Mal ihren Blutdruck hatte messen lassen.
    Mary ignorierte ihre Schwester geflissentlich und wandte sich an Tess. »Meine Süße, du weißt, dass Felicity nie gewollt hätte, dass das passiert. Es ist die reinste Qual für sie. Folter .«
    »Ist das ein Witz?« Lucy biss kräftig in einen Schoko-Brownie. »Erwartest du allen Ernstes, dass Tess mit ihr auch noch Mitleid haben soll?«
    »Ich hoffe nur, dass du ihr irgendwo in deinem Herzen verzeihen kannst.« Mary war ganz hervorragend darin, so zu tun, als wäre Lucy gar nicht da.
    »Okay, das reicht«, erklärte Tess’ Mutter. »Ich will kein Wort mehr hören.«
    »Lucy, die Liebe schlägt manchmal einfach zu!« Endlich nahm Mary ihre Schwester zur Kenntnis. »Es passiert eben! Aus heiterem Himmel!«
    Tess stierte in ihre Teetasse und drehte sie hin und her. Kam so etwas wirklich aus heiterem Himmel? Oder war es schon immer da gewesen, direkt vor ihren Augen? Felicity und Will hatten von Anfang an gut miteinander gekonnt. »Deine Cousine ist ein echter Spaßvogel«, hatte Will zu Tess gesagt, nachdem sie alle drei zum ersten Mal zusammen essen gegangen waren. Tess nahm es als Kompliment, weil Felicity ein Teil von ihr war. Ihre glänzende Gesellschaft war etwas, das Tess zu bieten hatte. Und die Tatsache, dass Will Felicity nahm, wie sie war, rechnete sie ihm als ein dickes Plus an. Das war beileibe nicht bei all ihren Exfreunden so gewesen, manche hatten Felicity richtig spüren lassen, dass sie sie nicht leiden konnten.
    Auch Felicity mochte Will auf Anhieb. »Den kannst du heiraten«, hatte sie zu Tess am folgenden Tag gesagt. »Der ist es. Wart’s nur ab!«
    Hatte Felicity damals schon auf ihn gestanden? War das hier alles unvermeidbar gewesen? Vorhersehbar?
    Tess erinnerte sich an die Euphorie, die sie an jenem Tag empfunden hatte, da sie Felicity und Will miteinander bekannt gemacht hatte. Es fühlte sich an, als hätte sie ein wunderbares Ziel erreicht, einen Gipfel erklommen. »Er ist perfekt, meinst du nicht?«, hatte sie Felicity gefragt. »Der kriegt uns.«
    Uns . Nicht mich .
    Ihre Mutter und ihre Tante redeten noch immer, nahmen gar nicht wahr, dass Tess ganz still geworden war.
    Lucy schlug die Hand vor die Augen. »Das ist keine romantisch schöne Liebesgeschichte, Mary!« Sie ließ die Finger wieder sinken, fixierte ihre Schwester und schüttelte voller Abscheu den Kopf, als wäre Mary eine verachtenswerte Verbrecherin.

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